Seminar im Gefängnis
Soziologie-Seminar im größten deutschen Gefängnis
Anstalts-Leiter der JVA Tegel gewährt Einblicke in Gefangenen-Alltag
Einmal Gefängnismauern von innen sehen, aber in wissenschaftlichem Auftrag: Die Studierenden des PS „Deviance, Violence and Crime in the US“ besuchten im Wintersemester die Justizvollzugsanstalt Tegel (JVA). Unter der Leitung von Dr. Katrin Döveling diskutierten sie dabei die im Seminar besprochenen Thesen im mit 1700 Insassen aus 78 Nationen größten Gefängnis Deutschlands.
Devianz steht für abweichendes Verhalten, das nicht selten zu kriminellem Verhalten führt. Die Leitfrage des Seminars lautete: Warum werden Menschen deviant, was führt in der amerikanischen Gesellschaft zu Kriminalität? Lutz Helmdach, der Leiter der Sozialtherapeutischen Anstalt der JVA Tegel, gewährte der Gruppe sogar Zutritt zu der Anstalt, in der die Insassen an therapeutischen Maßnahmen teilnehmen und damit Privilegien genießen. Sie dürfen zum Beispiel ein Sommerfest selbst organisieren.
Nach dem Besuch in der JVA Tegel stattete Lutz Helmdach (Mitte), Leiter der Sozialtherapeutischen Anstalt, den JFKI-Studierenden einen Gegenbesuch im Institut ab.
Der Justizvollzugsbeamte schreckte nicht vor kritischen und heiklen Fragen der Studierenden zurück: Wie wird in der JVA mit dem brisanten Thema Machtmissbrauch umgegangen? Oder: Wie kommt es zu einer Meuterei? Dass Medien nicht selten ein verzerrtes Bild der Realität darstellen, ist bekannt. Dennoch erstaunte bei der Exkursion die nüchterne Darstellung des Beamten über die Meuterei in der JVA Tegel, die Ende 2005 ein Thema in den Berliner Medien war: „Das war doch gar kein Aufstand“, lautete Helmdachs Kommentar. Er erklärte, dass sich Gefangene aufgrund eines fehlenden Fernsehprogramms nach einer Freistunde weigerten, wieder in das Gebäude zu gehen, schlussendlich jedoch „wie die Enten hinter Vaterchen“ dem zuständigen Beamten in ihre Zellen gefolgt sind.
Eine Bereicherung für das Seminar bedeutete außerdem ein späterer Besuch von Helmdach am JFKI. Nachdem sich die zum Teil überraschenden Eindrücke über Freiheiten und Grenzen in einem deutschen Gefängnis gesetzt hatten, nutzten die Studierenden die Gelegenheit, weitere konkrete Fragen zu stellen. Die Antworten wirken aus der Sicht eines Justizvollzugsbeamten mit 23-jähriger Berufserfahrung viel authentischer und prägen sich nachhaltiger ein, als bloßes Lesen von Texten, waren sich die Seminarteilnehmer einig. Von besonderem Interesse war der Vergleich zwischen Amerika und Deutschland. Einzelne therapeutische Konzepte werden aus den USA übernommen, erklärte Helmdach. Allerdings unterschieden sich die Gefängnisse in ihrer äußeren Form – sie seien in Amerika separierter und von der Außenwelt abgeschottet. Und die Zusammensetzung der Insassen ist anders: Große Gangs und Subkulturen, wie sie in den Medien dargestellt werden, gebe es in dieser Form in Deutschland nicht, betonte er.
Durch die Exkursion und das Interview mit dem Justizvollzugsbeamten füllten die Studierenden nicht nur Wissenslücken, sondern konnten auch einen direkten Praxisbezug zum soziologischen Studium von deviantem Verhalten herstellen. Eine wichtige Lektion haben die Teilnehmer gelernt: Insassen eines Gefängnisses – verurteilte Straftäter – sind, wie Helmdach betont „auch Menschen, die sich artikulieren können, mit Messer und Gabel essen und nicht aussehen, wie die Panzerknacker“.
(Hanni Meirich)