„Wie jung sie noch aussahen!“ In seiner Rede zur Bibliothekseröffnung erzählt Heinz Ickstadt ganz persönliche Institutsgeschichte
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste und Freunde des Kennedy-Instituts, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studentinnen und Studenten:
Heute Abend darf ich – zu Ehren der Bibliothek und zu meinem großen Vergnügen – als einer zu Ihnen sprechen, der ein langes Gedächtnis hat und weil er ein langes Gedächtnis hat. Jedenfalls reicht es weit in die Vergangenheit zurück – in die eigene wie auch in die des Instituts. Ich erinnere mich also an jenen Sommer 1958 (vor etwas mehr als 50 Jahren), als ich in meinem 5. Semester zum ersten Mal nach Berlin kam. Ein Amerika-Institut gab es damals noch nicht, wohl aber ein Englisches Seminar mit einer Abteilung für Amerikanische Literatur, die sich aus dem zunehmenden Drang nach Unabhängigkeit schließlich Amerika-Institut nannte. Es befand sich im ersten Stock eines Seitenflügels des Henry-Ford-Baus (jetzt fest im Besitz der Universitätsbibliothek). Es war dort gerade einmal Platz für die Bibliothek der Abeilung, die von Fräulein Wustrack – Name und Person sind unvergesslich – kompetent geleitet wurde und damals immerhin ca. 15.-20.000 Bücher hatte.
Die Lehre fand freilich außerhalb des Hauses statt – in einer Villa in der Nähe des Correns-Platzes. Ich erinnere mich an ein Hauptseminar des Lehrstuhlinhabers John McCormick über Herman Melville – mit acht eindrucksvoll klugen Leuten – das mein Leben nachhaltig verändert und mich zum eingefleischten Amerikanisten gemacht hat. Meine Anhänglichkeit wurde mit einer Hilfskraftstelle belohnt. Zu meinen vornehmsten Aufgaben gehörte es, die Bestände der Bibliothek mit Signaturen zu versehen, die Bücher zu beschriften und zu bekleben – eine mühevolle Arbeit, die aber durchaus Bestand hatte. Denn als ich zwanzig Jahre später – als frisch ans Kennedy-Institut berufener Professor für amerikanische Literatur – an den Regalen der inzwischen auf mehrere hunderttausend Bände angewachsenen Bibliothek entlang ging, erkannte ich noch einige der Signaturen wieder: Mein Werk das überdauert hatte, meine Spur im Sand der Zeit.
Aber dann eben doch nur ein kurzer Augenblick im weiten Zeitenhorizont der Zivilisationsgeschichte, denn Fortschritt und elektronische Vernetzung haben seitdem mit allen selbst gemalten Schildchen gründlich aufgeräumt. Doch damals, im Winter 1978, gab der Anblick der Signaturen ein Gefühl von Kontinuität: Hier gehöre ich hin, weil ich immer noch präsent bin. Allerdings war in den zwanzig Jahren, die zwischen meiner ersten und dieser meiner zweiten Ankunft in Berlin lagen, viel geschehen: mit mir, dem Institut und seiner Bibliothek, und natürlich mit Berlin. Das Berlin, das ich im Sommer 1958 gesehen hatte, war eine noch ungeteilte Stadt: Jeden Morgen standen ideologische Missionare von der Humboldt-Universität vor dem Henry-Ford-Bau und versuchten die Studierenden der FU in Streitgespräche zu verwickeln, zur reinen Lehre zu bekehren. Auf der anderen Seite waren wir jeden zweiten Abend im Theater am Schiffbauer Damm, um Helene Weigel, Ernst Busch oder Ekkehart Schall in der Aufführung eines Brecht-Stücks zu sehen.
Als ich dann 1961 von einem Fulbright-Stipendium in den USA nach Berlin zurückkam, war die Stadt bereits geteilt, am Checkpoint Charlie standen sich russische und amerikanische Panzer gegenüber und eine riesige, verbittert schweigende Menschenmenge sah zu, wie die Mauer immer höher wurde. Da hieß die einstige Abteilung für amerikanische Literatur bereits seit vielen Jahren Amerika-Institut und war nun drauf und dran in ein eigenes Gebäude umzuziehen, eben dieses, das damals noch nach Schule roch. Der spiritus rector dieser Verwandlung eines Instituts für amerikanische Literatur in ein area studies Institut mit Fokus USA war der Politologe Ernst Fraenkel gewesen, der in den späten 30er Jahren aus Berlin in die USA fliehen musste und nach seiner Rückkehr mit der Gründung eines Amerika-Instituts die verschiedenen Bereiche der Amerika-Forschung West Berlins unter ein Dach bringen und die Vereinigten Staaten in der akademischen Landschaft wie auch im öffentlichen Bewusstsein sichtbar und ein für allemal verankern wollte.
Meine Erinnerung will mir weis machen, dass all dies kurz nach meiner Rückkehr aus Amerika geschah, doch die Chronik des Historikers und lieben Emeritus-Kollegen Knud Krakau konfrontiert bloße Erinnerung mit der harten Wirklichkeit der Fakten, spricht vom Umzug 1964/65 und legt die offizielle Eröffnung des Instituts gar erst in den Januar 1967. Wie immer: ich war in jedem Fall dabei. Ich weiß das, weil ich – erneut als studentische Hilfskraft beschäftigt – den Festvortrag von Professor Charles Nichols, dem Nachfolger von John McCormick, durch akribisches Stöbern in den auch damals schon reichen Zeitschriftenbeständen des Instituts mit vorbereitet hatte. Der Vortrag galt, da bin ich mir ziemlich sicher, dem Abolitionisten Theodore Parker. Von den vielen anderen Reden an jenem Tag erinnere ich mich nur noch an die des Studentensprechers Werner Sollors, heute ein renommierter Professor an der Harvard Universität.
Die Veranstaltung fand in der damals noch leeren Haupthalle der Bibliothek statt, die heute mit Büchern und Regalen voll gestellt ist. Es gibt noch ein Photo (s. unten), das die Gründergeneration des Instituts zeigt, die lächelnd in der ersten Reihe sitzt: den Politologen Ernst Fraenkel, den Literaturwissenschaftler Charles Nichols, die Kulturwissenschaftlerin Ursula Brumm, den Historiker Gerald Stourzh und den Geographen Karl Lenz (wie jung sie doch damals noch aussahen!), während am Rednerpult stehend, Werner Sollors seine Rede hält. In der 2. Reihe sieht man Hans Kolligs, den Mann, der gerade, frisch mit einer Arbeit über Henry James promoviert, die Leitung der Bibliothek übernommen hatte: dynamisch, jugendlich, zupackend.
Er sorgte in den nachfolgenden Jahren dafür, dass sich die leeren Räume des Instituts mit Büchern füllten. Insofern dokumentiert dieses Photo nicht nur die Eröffnung des neuen Amerika-Instituts, sondern auch den Beginn der Ära von Hans Kolligs, unter dessen Leitung die erste Blütezeit der Bibliothek begann. Wir Hilfskräfte waren zwar anfangs immer noch gelegentlich damit beschäftigt, Signaturen zu malen und auf Bücher zu kleben, aber hauptsächlich ging es nun darum Fachzeitschriften zu durchforsten und Annoncen relevanter Bücher anzukreuzen, die dann von Herrn Kolligs und seinem Team bestellt wurden. Bis dann auch das nicht mehr notwendig war, weil die Bibliothek anscheinend alles bestellen konnte, was in den USA in Sachen Amerika-Forschung geschrieben und gedruckt wurde. Das war die Zeit der wunderbaren Buchvermehrung, und Hans Kolligs erwies ich als ein Meister weißer Magie, der in höchster Not oder im letzten Augenblick immer noch Restpöstchen entdeckte, mit der auch unerfüllbar erscheinende Anschaffungswünsche finanziert werden konnten.
Da waren jedoch die ersten, freilich noch harmlosen, Zeichen kommender stürmischer Zeiten bereits sichtbar: Studenten liefen auf einmal, Marxens Das Kapital unter den Arm geklemmt, durch die Korridore des Instituts. Der erste Sitzstreik, an den ich mich erinnere, entsprang dem studentischen Wunsch, Theodore Dreisers Roman Sister Carrie auf die Leseliste der Zwischenprüfung zu setzen: Er galt damals noch als Trivialtext und daher akademischer Beschäftigung nicht würdig.
Dass ich die nächsten zehn Jahre in München verbrachte, erspart mir die Erinnerung an ein Kapitel düsteren Institutsgeschehens, das ich nur von Hörensagen, Telefongesprächen, überlieferten Geschichten und Legenden kenne. Sicher ist jedoch, dass in jenen Zeiten ideologischer Grabenkämpfe, es die Bibliothek war, die das Institut vor dem Zusammenbruch bewahrte – wobei Hans Kolligs, der über engen Parteieninteressen schwebende Bibliotheksleiter und heimliche Institutsdirektor, Gemeinsamkeit beschwor, Gemüter beschwichtigte und die Bibliothek zum Anker des ins Driften geratenen Institutsschiffs machte.
Doch die Krise des Instituts tat dem weiteren Ausbau der Bibliothek keinen Abbruch. Im Gegenteil, die Bibliothek zu unterstützen, war zumindest ein Teil der Universitätsstrategie, dem Institut wieder zu mehr Stabilität zu verhelfen. Die kam dann in den 80er und 90er Jahren auf Grund einer Reihe wichtiger Neuberufungen (aber auch auf Grund der allgemeinen Ideologiemüdigkeit in postrevolutionären Zeiten) allmählich zurück, wie mehrere Kommissionen, die den akademischen Wert des Instituts überprüfen sollten, wenn auch nur zögerlich bestätigten.
Aber ich erinnere mich, wie 1981, anlässlich der Eröffnung des Frankfurter Zentralinstituts für Amerika-Forschung (ZENAF), der damalige Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien, Günter Moltmann, das Experiment Kennedy-Institut für gescheitert erklärte, – was gewiss ärgerlich war, doch insofern auch sein Gutes hatte, als uns nun wirklich allen klar wurde, dass das schon genüsslich Totgesagte auf alle Fälle länger leben musste. Schon wenige Jahre später schrieb ein englischer Amerikanist über das Institut und seine Bibliothek (und hier zitiere ich aus der Chronik von Herrn Krakau):
Although we have collections of Americana of great richness and depth in Britain, I have never, even in the United States, seen so much research material on North America gathered so conveniently […] with such excellent back-up facilities and reading conditions… One of the joys of the library is that everything except microforms is on open access, making the collections especially convenient to use. The reference collection is superb […] and the atmosphere noticeably relaxed and pleasant… the result is a resource which every Americanist in Europe has reason to be grateful for.
Mit Hilfe zuerst der amerikanischen, später auch der kanadischen Regierung, dann der VW-Stiftung und schließlich der Freien Universität bietet die Bibliothek seit mehr als 25 Jahren ein Stipendienprogramm, dass es vor allem europäischen Amerikanisten möglich macht, die Ressourcen des Instituts und seiner Bibliothek zu nutzen. Vor und noch mehr nach dem Mauerfall machten Amerikanisten besonders aus den Ländern Zentral- und Osteuropas von diesem Angebot Gebrauch, und es gibt wohl keinen Nordamerika-Forscher in Polen oder Ungarn, der nicht schon mit Hilfe der Library Grant Recherchen an der Bibliothek des Instituts betrieben hätte. In den 90er Jahren ließ das Kennedy-Institut dann endlich alle Wachstumsprobleme hinter sich und gehört seit dem zu den besten Amerika-Instituten Europas. (Ganz Unbescheidene glauben zu wissen: Es ist das beste!)
Aber nun kam ausgerechnet die Bibliothek in Schwierigkeiten. Das hing einmal damit zusammen, dass der frühe Tod des unvergleichlichen Hans Kolligs eine Lücke hinterließ, die nicht schnell zu schließen war. Die Bibliothek geriet in eine Führungskrise, die durch die finanziellen Kürzungen dieser Jahre – die Schrumpfung des Budgets und damit auch des Umfangs der Buchbestellungen, die Stornierung von Zeitschriften u.ä.m.– noch verschärft wurde. Bis dann in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends eine zweite Blütezeit der Bibliothek begann: die Ära Blinten.
Als neuer Bibliotheksleiter führte Benjamin Blinten mit erstaunlich ruhiger Hand und souveränem Blick für das Wesentliche die Bibliothek des Instituts in die neue Welt globaler Vernetzungen und elektronischer Verknüpfungen, die denen ungeahnte Möglichkeiten der Recherche eröffnet, die jenes Sesam-Öffne-Dich beherrschen, das Zugang zum neuen Reichtum unermesslich vieler Datenbanken verschafft. Jemand wie ich, dem der Blick zurück inzwischen leichter fällt als der unternehmungsfrohe Blick nach vorne, dem das zärtliche Streicheln von Buchdeckeln näher liegt, als die Verfolgung einer bibliographischen Spur im Labyrinth des Internet, überlässt die Beschreibung dessen, was die Bibliothek jetzt alles an Neuerungen zu bieten hat, besser einer kompetenteren Instanz.
Was jedoch unmittelbar ins Auge springt, gibt auch den Anlass zu dieser Feier, die grundlegende Renovierung der Bibliothek, die dem ganzen Instituts ein neues Gesicht gegeben hat: ein Hauch von Eleganz, ein Gefühl von Exzellenz – neue Räume, neue Geräte, Farbtöne, deren Wärme jedem Gast vermittelt, dass Arbeit hier sogar Vergnügen macht. Nicht dass dies der erste Umbau wäre. Ich erinnere mich, dass ich 1976 als nervös-zittriger Bewerber auf den Lehrstuhl Literatur in einem Raum „vorsang“ (Raum 221), der schon lange nicht mehr existiert, schon lange zu einem Bibliotheksraum geworden ist, wie überhaupt das ständige Wachstum der Bibliothek neue Raumgestaltungen im Hause notwendig machte.
Aber dieses hier und heute übertrifft alles Vergangene, markiert eine neue Phase der Institutsgeschichte, die nicht nur in der neu gestalteten Bibliothek, sondern auch in der neu gegründeten Graduate School manifest wird. Deshalb genug von der Vergangenheit. Der Blick gilt nun allein der Zukunft, zu der ich Ihnen, lieber Herr Blinten, Dir, lieber Harald Wenzel, der ganzen Bibliothek, dem ganzen Institut samt seiner Graduiertenschule aus vollem Herzen alles Gute wünsche. (Heinz Ickstadt)