Marcus Rediker in Berlin
Zu den Höhepunkten des Kolloquiums der Abteilung Geschichte gehörte im Wintersemester der Gastvortrag des renommierten Pittsburgher Sozialhistorikers Marcus Rediker über den transatlantischen Sklavenhandel. Professor Rediker, der im letzten Jahr für sein jüngste Buch „The Slaveship“ gleich mit einer ganzen Reihe bedeutender geschichtswissenschaftlicher Preise und Ehrungen ausgezeichnet worden ist, zeigte sich außerdem als sehr engagierter Teilnehmer eines im Rahmen von Ursula Lehmkuhls SFB-Teilprojekts „Colonial Governance und Mikrotechniken der Macht“ organisierten Doktorandenworkshops. In seinem Kolloquiumsvortrag fasste Rediker die kontroversen Thesen seines letzten Buches in überzeugender und oft schockierender Form zusammen, wobei er das Publikum insbesondere auch durch seinen lebendigen Vortragsstil in seinen Bann zu ziehen wusste. Rediker stellte entgegen mancher objektivistischer Tendenzen in der neueren Fachliteratur („those historians who like to do the body count“) die individuell-menschliche und traumatisierende Wirkung, die der Millionen Afrikanern den Tod bringende Menschenhandel auf alle beteiligten hatte, in den Vordergrund. Unter Zuhilfenahme von Gerichtsakten und anderen Quellefunden, die Rediker fast schon wie ein dokumentarisches Bühnenstück inszenierte, entstand ein lebendiges Bild von dem sozialen Mikrokosmos des Sklavenschiffs („war machine, factory, mobile prison“), das als eigenes Forschungsthema bislang überraschend wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Professor Rediker, der seit Jahrzehnten zur Themen der historischen Seefahrt und Piraterie arbeitet, stellte die Dynamik der komplexen Beziehungen zwischen Seeleuten, versklavten Afrikanern und Kapitänen in den Vordergrund seiner Überlegungen und hob hervor, wie selbst noch unter schwierigsten Bedingungen von Sklaven Widerstand geleistet wurde und Mannschaften die Durchführung besonders unmenschlicher Befehle verweigerten. Ein besonderes Anliegen war es Marcus Rediker außerdem, die gängige Sichtweise auf die abolitionistische Bewegung in England als ein wohltätiges Engagement einiger wohlhabender Bürger einer Korrektur zu unterziehen. Die wahren Helden dieser Bewegung sieht Rediker in widerständigen Sklaven und Aktivisten aus den unteren sozialen Schichten, die seiner Meinung nach die eigentliche Basis dieser Bewegung bildeten. Den Abschluss von Redikers Besuch in Berlin war eine Veranstaltung im Kreuzberger Mehringhof, bei der die vom Verlag Assoziation A herausgegebene (sehr gelungene) deutsche Übersetzung des von Marcus Rediker zusammen mit Peter Linebaugh geschriebenen Buches „Vielköpfige Hydra. Seeleute, Sklaven und Gemeine und die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks“ vorgestellt wurde. Rediker machte bei dieser Gelegenheit noch einmal deutlich, dass er wissenschaftliche Geschichtsschreibung und politisches Engagement nicht als Gegensätze, sondern sich gegenseitig inspirierende Aktivitäten betrachtet. Während Rediker und Linebaugh mit dem Bild der „vielköpfigen Hydra“ zunächst nur eine poetische Metapher für das eigensinnige, multiethnische „Proto-Proletariat“ aus Piraten, Seeleuten, Sklaven und Tagelöhnern, die der Frühkapitalismus des 18. Jahrhunderts hervorgebracht hat, gefunden haben, ist dieser Ansatz doch merklich von den heutigen Erfahrungen der globalisierungskritischen Bewegung und den Diskussionen über den Begriff „multitude“ (Antonio Negri, Michael Hardt, Paolo Virno) inspiriert.