Familie Carter
Feldbericht von Matthias Gutschmidt
(Aufenthalt: 13.-17. April 2006)
1. Einleitung: Unterwegs mit Caren und Clyde Carter
Im Rahmen der Vorbereitung unserer Exkursion kamen wir in Kontakt mit Karen und Clyde Carter, einem älteren Ehepaar aus Roanoke, die sich sehr interessiert an unserem Projekt zeigten und uns auf vielfältige Weise bei der Kontaktaufnahme mit verschiedenen Gemeinden in der Gegend unterstützten. Auf ihr Angebot hin verbrachte ich nach meinem ersten Gemeindeaufenthalt in Lynchburg einige Tage in Roanoke, um zu sehen, wie sie ihren Glauben in den Alltag integrieren und um sie bei ihren Aktivitäten zu begleiten. Karen und Clyde gehören der Church of the Brethren an (im Folgenden CoB). Als “retired minister“ verfügt Clyde über viele Kontakte und Erfahrungen im religiösen Spektrum von Roanoke und Umgebung. Dieser Bericht soll nun in einzelnen Episoden meine Erfahrungen mit den Carters dokumentieren.
Lunch – erstes Zusammentreffen mit den Carters
Wir (Martin Gehlen, Katharina Eglau und ich) treffen mit den Carters zusammen und führen eine erste kurze Unterhaltung beim Essen. Wir berichten kurz über unsere bisherigen Erfahrungen. Karen und Clyde führen uns in die regionale Küche ein und erzählen kurz über ihren persönlichen Hintergrund und ihre früheren Erfahrungen in Deutschland. Schon bei diesem ersten Treffen wird klar, dass beide eine gefestigte innere Einstellung zur gegenwärtigen politischen Lage in den USA haben und damit auch nicht hinter dem Berg halten.
Beide sind ausgesprochene Pazifisten, Karen hat sogar in der Vergangenheit abgelehnt den “oath of allegiance“ zu unterschreiben, sie wurde deswegen extra nach Washington zitiert und unterschrieb dort nach einigen Debatten eine eigens verfasste, nicht militaristische Version. Sie nennt Präsident Bush im Gespräch einen “pocket dictator.“ Beide zeigen sich sehr intellektuell, belesen und interessiert an unserem Vorhaben und an der Situation in Europa, speziell in Deutschland.
Roundtrip Roanoke mit Clyde
Clyde nimmt mich im Auto auf eine erste kurze Stadttour mit. Dabei bekomme ich eine erste Ahnung von dem, was sich in den folgenden Tagen als Eindruck bestätigen und verfestigen sollte. Hier treffe ich auf einen Mann der Teil seiner Gemeinde ist und aktiv am Geschehen in seiner Ungebung teilnimmt. Clyde beeindruckt mich zunächst mit unglaublichen Detailwissen über Menschen, Häuser und stadtrelevante Begebenheiten. Er kommt mir wie ein lebender Teil der Stadtgeschichte vor, weiß fast zu allem und jedem eine kleine Geschichte zu erzählen. Vieles davon sicherlich aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als minister, aber auch wegen seinen anderen vielfältigen beruflichen und privaten Verknüpfungen in der Gemeinde. So erzählt er mir z.B. am alten courthouse, wie er für einige Zeit als Verantwortlicher dort Kautionen festgelegt hat und wie seine Erfahrungen damit waren.
Camp Bethel
Clyde zeigt mir einen Teil von Camp Bethel, einer 460 acres großen Naturfreizeitanlage die bis zu 110 Kindern aus Gemeinden der CoB, aber auch aus anderen Denominationen, Spaß und Erholung bietet. Trotz seines fortgeschrittenen Alters ist Clyde sehr gut zu Fuß und bewältigt mühelos die anfallenden Höhenmeter auf unserer kleinen Wanderung. An einigen Stellen erklärt er mir Besonderheiten der hiesigen Flora und Fauna und berichtet mir, wie er anhand von Vorgängen in der Natur den Kindern im Camp Zusammenhänge in Bezug auf Leben und Tod erklärt.
Clydes Vater war einflussreich bei der Errichtung des Camps, Clyde erklärt mir detailliert die verschiedenen Generationen von Blockhütten. Heute ist Clyde immer noch gelegentlich im Camp involviert, er verrichtet kleinere Arbeiten (wie auch auf seinem Grundstück kommt hier seine Machete zum Einsatz, ein Geschenk, dass er gerne und stolz präsentiert) oder hilft bei der Betreuung der Kinder in der Position als Camp-Großvater. So berichtet er mir, wie er einmal in dieser Funktion ein Kind vom Selbstmord eines Verwandten informierte.
Gespräch mit Karen und Clyde
Nachdem ich das beeindruckende Haus und Grundstück der Carters kennen gelernt habe, bleibt etwas Zeit für ein ausführlicheres Gespräch mit den beiden. Aus den beeindruckenden Berichten über ihre vielfältigen sozialen Kontakte und Erfahrungen bleibt vor allem der Eindruck bei mir hängen, in welch konsequenter Weise die beiden versuchen ihren Glauben in ihr Alltagsleben zu integrieren. Pazifismus und Nächstenliebe sind dabei als zentrale Punkte zu nennen. So waren beide aktiv in der Civil Rights Bewegung, ihr Haus fungierte mehr als einmal als Anlaufstelle für politisch Verfolgte, wie z.B. lateinamerikanische Flüchtlinge, aber auch als temporäre Notunterkunft für Kinder, die Opfer von familiärer Gewalt geworden sind. Ein dickes Buch auf dem Couchtisch verzeichnet die Einträge von vielen Gästen aus verschiedenen Kulturen, die für eine kurze oder längere Zeit die Cartersche Gastfreundschaft genossen haben.
Maundy Thursday Love Feast in der Williamson Road CoB
Ich begleite Karen und Clyde zu einem Gründonnerstaggottesdienst in die Williamson Road CoB. Der Höhepunkt bei diesem Zusammentreffen der Gemeinde wird die Durchführung des traditionellen Fußwaschrituals sein, bei dem an die Handlung von Jesus gegenüber seinen Jüngern am Gründonnerstag erinnert wird. Wir sind etwas früher da und ich kann mir einen Eindruck über das Innere der Kirche verschaffen und unterhalte mich mit einigen Gemeindemitgliedern.
Die Atmosphäre ist sehr locker, alle sind offen, direkt und sehr herzlich. Es herrscht etwas Verwunderung unter den Anwesenden darüber, dass der Gottesdienst nur spärlich besucht ist, vor allem junge Leute sind kaum anzutreffen. Jemand meint, dass mehr Jugendliche kamen, als diese auch die Verantwortung für die Durchführung des Love Feasts hatten. Karen erzählt mir, dass diese Gemeinde keine starke Community Verankerung mehr habe und die Leute eher von weiter weg kämen, was im Gegensatz zur Aufgabe des Pastors steht, eher die umliegende Gegend zu erreichen. Beim Love Feast wäscht jeder dem Nebenmann die Füße, danach erfolgt eine Umarmung. Männer und Frauen vollziehen das Ritual in getrennten Gruppen, einige Frauen tragen traditionelle Hauben, die Reinheit demonstrieren sollen. Nach der Fußwaschung erfolgt das Abendmahl an in Kreuzform aufgestellten Tischen, danach wird gegessen und sich in Gruppen unterhalten.
Gespräch mit Rusty Dinkens – Christian Peacekeeper
Im Anschluss an das Essen habe ich die Gelegenheit mich mit Rusty Dinkens, einem Brethren, zu unterhalten. Rusty war und ist aktiv bei den Christian Peacekeepers, einer Organisation, die versucht mit engagierten Christen in weltweiten Krisengebieten einen Beitrag zur Schaffung oder zur Erhaltung des Friedens zu leisten. Rusty war bereits im Irak, in Südamerika und in Israel. Er berichtet von einem früheren Einsatz in Israel, wo sie quasi als menschliche Schutzschilder palästinensische Schulkinder vor Übergriffen der israelischen Siedler zu schützen versuchten. Diese Einsätze werden durch viele Einzelspenden, z.B. aus dieser Gemeinde unterstützt.
Auf meine Frage hin antwortet Rusty, dass im Rahmen dieser Einsätze keine Missionstätigkeit von ihrer Seite betrieben wird. Dies sei einerseits von Vorteil, da man als Vermittler auftreten könne, andererseits von Nachteil, wenn man als Teil des feindlichen Weltbildes attackiert wird. Aber auch daheim geraten die Christian Peacekeepers manchmal in die Schusslinie. So berichtet Rusty von dem Fall einer Geiselbefreiung eines Mitgliedes im Irak durch die US-Armee und die darauf folgende problematische Darstellung in den Medien. Rusty wird in Zukunft weniger aktiv sein, da sich für ihn durch private Veränderungen weniger Zeit und Möglichkeiten für die Einsätze ergeben. Im Gespräch äußert Rusty die Ansicht, dass es sich bei einem Großteil der amerikanischen Religiosität um eine Form von “civil religion“ handelt. Er hält Konversionserfahrungen für wichtig, aber nicht wie im Modus der Evangelikalen als rein Ich-bezogenen Heilsweg. Zentral sei vielmehr nicht nur gerettet zu werden, sondern auch der gemeinsame Weg dorthin. Karen schaltet sich in das Gespräch ein und verweist auf neue Untersuchungen zur Verbindung von Wissenschaft und Religion. So hätten Versuche ergeben, dass Wassermoleküle auf Emotionen reagierten. Sie kann mit einer Spiritualität ohne Bezug auf eine konkrete Gottesperson leben.
ARM – Soup Kitchen
Die erste Station des Tages führt uns in eine Suppenküche. Clyde hilft hier ein bis zweimal im Monat aus. Wir tragen uns in eine Liste ein und werden von der resoluten Küchenchefin in eine spezielle Aufgabe eingewiesen. Clyde verteilt heute die Donutschachteln beim Ausgang, achtet dabei penibel darauf, dass keiner nur die Donuts nimmt, ohne vorher etwas Substanzielles zu essen, da die Leute nach Tagen auf der Strasse sonst den süßen Nachtisch nicht im Magen behielten. Ich helfe beim Abfüllen der Getränke und dem Abwischen der Tische. Viele der Gäste sind Obdachlose und Stammkunden, allerdings kommen auch Arbeiter aus Niedriglohnjobs in ihrer Mittagspause, die sich ansonsten kein Mittagessen leisten können.
Es sind noch andere Freiwillige da, ein älteres Paar, dass zum ersten mal in einer Suppenküche aushilft, dazu ein paar Jugendliche und einige Mormonen, die durch ihre angehefteten Namensschilder erkennbar sind. Clyde erzählt mir, dass seit kurzem auch bei den Mormonen soziale Arbeit neben der Mission in der Ausbildung vorgeschrieben ist. In der Suppenküche fällt besonders der Servicegedanke im Sinne der christlichen Nächstenliebe gegenüber den Hilfeempfängern auf, alle werden sehr zuvorkommend behandelt. Das Essen wird gespendet und ist mehr als ausreichend. Allerdings wird darüber hinaus nicht viel angeboten. In einem Warteraum vor dem Essenssaal sitzen einige der Leute und schauen Fernsehen.
Auf der Fahrt zum nächsten Termin zeigt mir Clyde eine Gegend, wo er mit seinen Söhnen einige Immobilien erworben hatte, um mit staatlichen Mitteln übergangsweise Häuser für Wohnprojekte zur Verfügung zu stellen. Diese waren für Personen gedacht, die sich eine Behausung ansonsten aus einer persönlichen Notlage nicht leisten können. Leider, so Clyde, hätte sich nach einer Weile eine Art Wohlfahrtstourismus entwickelt, in dessen Verlauf sogar Leute aus New York nach Virginia gekommen seien, aufgrund dieser Möglichkeiten. Leider waren darunter auch einige Kriminelle, die die Häuser zum Drogenverkauf zweckentfremdeten, was natürlich nicht im Sinne des Projektes war. Daneben besuchen wir noch ein weiteres kirchliches Projekt, wo Mütter einen Drogenentzug bewältigen können, ohne von ihren Kindern getrennt zu werden, was bei staatlichen Einrichtungen wohl nicht immer möglich ist.
Retirement Complex – Unterhaltung mit Louis Waters
Clyde’s Vater und die CoB waren maßgeblich an der Konstruktion des Komplexes beteiligt. Die Einrichtung wurde seit den 1960gern kontinuierlich erweitert und ausgebaut. Allerdings dachte man damals noch nicht so sehr an die Verbindung von medizinischer Versorgung und Altersheim, die heute charakteristisch für die Einrichtung ist. Die Brethren haben die Einrichtung später verkauft, da sie zu schnell gewachsen ist. Allerdings gibt es immer noch sehr viele Mitglieder einzelner Brethren-Gemeinden, die in den verschiedenen Häusern betreut werden. Clyde hat eine Liste von diesen Mitgliedern und besucht sie oft. So besuchen wir an diesem Tag kurz eine 98jährige Frau, mit der Clyde kurz spricht und die, abgesehen von ihrer eingeschränkten Mobilität, noch gut beieinander ist.
Danach besuchen wir Louis Waters, eine weitere Seniorin in der Anlage, die sich gerade mit dem Gedanken trägt, in eine andere Stadt umzuziehen, um ihren erwachsenen Kindern näher zu sein und ihnen die Mühe der Besuche zu ersparen. Louis ist durch ihren Ehemann zu den Brethren gekommen und dort geblieben. Sie redet mit Clyde über verschiedene Einrichtungen in der Nähe von Baltimore, bei denen sie sich Angebote eingeholt hat.
Dabei kommt auch das Thema Religion zur Sprache. Clyde meint, dass die kirchlichen Träger am vertrauensvollsten seien, da sie die Kosten nicht willkürlich erhöhten. Allerdings seien in der Vergangenheit auch einige kirchliche Einrichtungen Konkurs gegangen, da sie die Kosten zu wenig erhöht hatten und somit am Markt nicht mithalten konnten. Clyde empfiehlt offen die katholischen Häuser in der besprochenen Gegend, da diese einen guten Ruf hätten. In der Unterhaltung bekomme ich einen Eindruck davon, wie wichtig das Thema Altersvorsorge und dessen Finanzierung für die Menschen hier ist. Bei diesem Gespräch stellt sich aber auch heraus, wie wichtig die kirchliche Anbindung in den jeweiligen retirement-Plänen ist und nach welchen Kriterien abgewogen wird.
In der Einrichtung gibt es auch eine kleine Kapelle, wo Fernsehgottesdienste gesehen werden können und in der ab und zu ein methodistischer Priester Gottesdienst hält. Dieser habe sich stark verbessert im Vergleich zu früher, meint Louis, insgesamt ist sie dankbar für die Kapelle und das religiöse Angebot. Wenn sie näher bei den Kindern ist, will sie darauf hinwirken, dass die Familie wieder näher zur Kirche kommt. Außerdem möchte sie wieder eine Katze haben. Clyde meint, sie solle aber die Familie nicht zu stark bedrängen.
Zur Trennung von Staat und Kirche
Auf der Fahrt zum Haus zurück zeigt Clyde mir eine staatliche Grundschule, neben der ein mobiler Wohnwagen für “weekday religious education“ steht. Das Projekt wurde von den Brethren initialisiert, ist aber nun non-denominational. Durch die Trennung von Kirche und Staat muss die religiöse Erziehung seit einiger Zeit außerhalb der Schule stattfinden. Clyde ist nicht sonderlich begeistert darüber, kann aber mit der Situation leben. Die Eltern müssen nun für ihre Kinder eine Erlaubnis ausfüllen, damit diese an den Stunden teilnehmen dürfen.
Tenebrae-Gottesdienst
Am Abend besuchen wir einen Tenebrae-Gottesdienst, der von Jugendlichen gestaltet und abgehalten wird. Dabei wird nach verschiedenen Lesungen aus der Schrift jeweils nacheinander eine Kerze ausgelöscht, um mit der hereinbrechenden Dunkelheit das Leiden Jesu am Karfreitag zu symbolisieren. Für die Größe der Kirche sind wieder nur wenige Leute, etwa 70, anwesend, hauptsächlich die Jugendlichen mit ihren Familien. Die Besucher des Gottesdienstes sind weitestgehend weiß und mit dem Auto da. Clyde erzählt mir, dass sich die Kirche in einer Gegend befindet, deren demographische Struktur sich im vergangenen Jahrzehnt drastisch verändert hat. Der Anteil der Afro-Amerikaner hier stieg von 30% auf fast 100% an. Viele der Anwesenden würden nur zum Gottesdienst in die Gegend kommen.
Peace Vigil
Samstag. Downtown Roanoke. Market place. Mittagszeit. Die Gegend ist belebt. Wir stehen stumm in einer Reihe vor dem Haupteingang des Einkaufszentrums. Es handelt sich um eine Peace Vigil, eine einstündige Schweigeandacht. Sie findet einmal im Monat statt, gegen Krieg und Aggression weltweit. Die Teilnehmenden sind aus verschiedenen Kongregationen, stark vertreten sind natürlich die Friedenskirchen wie die Brethren und die Quäker, aber auch andere Friedensbewegte und Gleichgesinnte stehen dabei oder schließen sich an. Einige halten Plakate zur Strasse hin mit Losungen wie: “Another place, another war, there’s gotta be a better way.“ Viele Passanten bleiben stehen und werden bei Interesse mit Flyern versorgt. Da der Bereich verkehrsberuhigt ist, sehen auch die Autofahrer im Vorbeifahren worum es sich handelt.
Die Reaktionen sind gemischt. Es gibt einige “Thumps-up,“ viele erstaunte Gesichter und nur zwei negative Reaktionen. Weitestgehend aber verhalten sich Passanten und Autofahrer recht teilnahmslos. Es ist ein sehr heißer Tag, ein Shop-Angestellter kommt heraus und stellt uns Getränke hin, mit dem Hinweis bei der Hitze besser viel zu trinken.
Ein kurioser Zwischenfall stört die meditative Stimmung in der Kette. Ein Kutschfahrer pocht auf sein Standrecht an der Strasse Touristen aufzulesen, natürlich ein Problem, so etwas auszuhandeln bei einer Schweige-Demo. Letztlich klärt sich die Situation, der Kutscher nimmt seine Gäste auf und fährt davon. Mich erstaunt die allgemeine Stimmungslage um den Irak-Konflikt herum. Alle scheinen scheinbar abgestumpft. Man nimmt das Anliegen wahr und geht seiner Dinge. Ich hätte extremere Reaktionen erwartet, in beide Richtungen. Karen steht da mit einer großen Flagge, die das Peace Symbol zeigt. Im Vorfeld hatte es wohl Diskussionen darum gegeben, ob das Zeigen von Symbolen jeglicher Art gewünscht sei, ob es ablenken oder anregen sollte.
Sunrise Service
Der Sunrise Service am Ostersonntag wird gemeinsam abgehalten von einem Pfarrer der Baptisten, der Methodisten und der Brethren. Ungefähr 70 bis 90 Menschen sind in der Frühe anwesend. „Christ is arisen, halleluja!“ Der gemeinsame Tenor ist eine freudige Bezeugung des Auferstandenen. Der Ort des Gottesdienstes wechselt im Turnus zwischen den drei Denominationen. Solche Zusammentreffen der Gemeinden gibt es wohl sonst nur zu Thanksgiving.
Die Pastoren wirken jugendlicher als ihr Publikum. Der methodistische Pfarrer trägt einen lilafarbenen Anzug mit einem orangen T-Shirt. Der junge afro-amerikanischer Pfarrer der Brethren überbrückt den kurzfristigen technischen Ausfall der Stereoanlage, indem er die noch etwas müde wirkenden Gemeindemitglieder zum Gospel a-capella Gesang animiert. Das klappt ganz gut. Die Predigt des baptistischen Pfarrers thematisiert auch persönliche Suchterfahrungen. Er stellt die persönliche Glaubensbeziehung und die Bedeutung der Auferstehung für den Einzelnen in den Mittelpunkt und ist sehr mitreißend. Nach Ende des Gottesdienstes gehen alle zum Frühstück über. Würstchen und Blaubeerpfannkuchen. Interessant ist das Gespräch der drei Pastoren untereinander, an dem sich auch Clyde beteiligt.
Hierbei kommen die unterschiedlichen Erlebnisse und Sichtweisen der Pfarrer in Bezug auf kircheninterne Probleme zum Vorschein. Manche Gemeinden bevorzugen zum Beispiel bestimmte Versionen der King James Bible, schon die Form der Sprache kann so – bei gleichem Inhalt – zum Problem werden. Clyde erwähnt, dass wenn es bei den Baptisten zur Spaltung komme, als Resultat wahrscheinlich zwei lebensfähige Gemeinden entstünden. Bei den Brethren dagegen würde eventuell eine der Gemeinden verschwinden. Aufgrund seiner wohl über die Stadt hinaus geachteten Stellung in der CoB, wurde Clyde in der Vergangenheit auch für bestimmte Zeiträume in krisenhafte Brethren Gemeinden bestellt, um dort als eine Art Supervisor jeweils ein konkretes Problem zu lösen. Dies aber in aller Verschwiegenheit, nicht einmal mit seiner Frau durfte er darüber reden.
Sunday School mit Karen
Vor dem Ostersonntagsgottesdienst wohne ich einer Bibelstunde bei, die von Karen geleitet wird. Es ist eine abschließende Stunde in einem Zyklus über Pazifismus. Sie zeigt Ausschnitte aus dem Oscarprämierten Spielfilm über Ghandi. Besonders solche Szenen, in denen die Inder die Gewalt der Briten friedlich erdulden. Karen betont die moralische Überlegenheit der Unterdrückten und wie sie dadurch Kontrolle über die Situation erlangten. Sie stellt aber auch klar, wie wichtig es ist, nicht in einem Gefühl der moralischen Überlegenheit auf den Gegner hinabzublicken. Karen ist sehr bewegt. Für sie stellt das Leiden Ghandis eine direkte Verbindung zur Passion Christi dar. Einige Anwesende verlassen frühzeitig die Bibelstunde. Am Ende gibt es ein kleines Buffet.
Easter Service
Der Ostergottesdienst ist gut besucht. Die Interimspastorin Judy leitet ihn durchaus souverän. Man merkt, wie sie die Gemeinde persönlich ansprechen will. Fürbitten für verschiedene Gemeindemitglieder werden gehalten und auch die ca. 15 anwesenden kleineren Kinder werden in die Gestaltung der Messe einbezogen.
Nach Ende des Gottesdienstes verbleiben noch einige Menschen in Gruppen und plaudern. Ich erkenne einige Gesichter aus vorherigen Begegnungen wieder. Auch ich werde angesprochen, man bedankt sich für meine Anwesenheit und fragt mich nochmals nach meinen Erfahrungen. Als sich die Kirche schon fast geleert hat, werde ich eher indirekt Zeuge eines verbalen Konfliktes zwischen Karen und Pastor Judy. Es geht um Terminschwierigkeiten und nicht erfolgte Ankündigungen in Kirchenmitteilungen über eine Serie von Film-screenings, die Karen gerne in der Kirche veranstalten würde. Es geht um Filme über “social issues“ und “civil resistance,“ aber auch einen Film, der Homosexualität und den Umgang damit thematisiert. Der Konflikt ist Pastor Judy sichtlich unangenehm, erst recht zu diesem Zeitpunkt. Karen lässt aber nicht locker. Pastor Judy verweist immer wieder darauf, dass sie prinzipiell zwar auf Karens Seite sei, bei der derzeitigen Übergangssituation der Gemeinde aber nichts ohne Abstimmung der zuständigen Kirchengremien unternehmen würde. Sie beendet die Konfrontation mit einem: “Well, Happy Easter!“ Auf dem Heimweg versucht Karen etwas die Situation herunterzuspielen. Sie meint alles wäre ein bürokratisches Problem, dass mit einer kommenden neuen Kirchenverfassung zu lösen sei. Ich bin irgendwie beruhigt, auch bei den Brethren gibt es also Konflikte!
Abschied von den Carters
Das Ende der Osterwoche bei den Carters verging wie im Fluge. Ich verlasse sie mit einigen Eindrücken und vielen offenen Fragen. In Erinnerung werden mir sicherlich ihre Offenheit und ihre Gastfreundschaft bleiben. Ich denke, dass diese persönliche Erfahrung ein lohnendes Gegenstück zum reinen Gemeindeaufenthalt war, wenn auch hier einiges bruchstückhaft blieb.