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Das ästhetische Vorverständnis der American Studies

Winfried Fluck

Das ästhetische Vorverständnis der American Studies*

 

(Erschienen in: Jahrbuch für Amerikastudien 18 (1973): 110-129; //XXX// gibt jeweils das Ende der entsprechenden Seite in der Veröffentlichung an)

 

ABSTRACT

The author attempts a description of the tacit assumptions which currently underlie both the methodology and the findings of literary American Studies. The main purpose is to determine what has so far prevented American Studies from carrying out its interdisciplinary intentions. As a result, this paper pays closer attention to actual interpretative practice rather than to the many theoretical discussions which in most cases have had little operational significance. (1.1 – 1.3) Although American Studies has tried to transcend the strongly criticized new-critical formalism or contextualism, it has often unconsciously perpetuated its basic value assumptions by regarding the notion of structural unity as indispensable - as can be paradigmatically shown by a close analysis of The Machine in the Garden by Leo Marx. (3.1 – 3.3) In an effort to treat literature as specifically "literary", critics have tended to confuse the "literary" with its definition by the contextualists. This definition, however, represents an unwarranted generalization of one type of literary structure and results in interpreting many texts according to principles by which they patently were not written. (2.1 – 2.4) In the end this initial confusion of concepts decisively shapes the large-scale attempts to define the distinctive quality of American culture. For the only way the cultural meaning of a literary work of art can be viewed as the central unity-giving structure is if it is defined as recurrent pattern or dualistic metaphor. Consequently, the critic is left preoccupied, not with the cultural meaning itself, but with its usefulness as a central structural principle which lends order and self-sufficient coherence to the literary text. (4.1 – 4.3)

The logical inevitability of this preoccupation under the given assumptions is further evident in various other attempts to extend "new criticism" towards a "new historicism" (M. Krieger, R. H. Pearce, a, o.). Again and again contextualist Gestalt premises are merely projected onto society rather than viewing the latter in its own right. (5.1 – 5.3) Thus, by enlisting American literature in the cause of an irrational "tragic vision" or "culture of contradictions", an attempt is made to invest American cultural tradition with an overt or covert existentialism that seems to reveal more about the current "philosophy of life" of American critics than about the specific characteristics of American culture. (6.1 6.3) (WF)

 

1.1 Wissenschaftstheoretische und methodologische Intentionen der American Studies sind inzwischen mehrfach diskutiert worden. Diese Diskussionen sind nicht zuletzt deshalb unbefriedigend geblieben, weil sie die theoretischen Absichtserklärungen nicht mit der bisherigen Interpretationspraxis der maßgebenden Vertreter der American Studies verglichen haben: "Wer die Wahl der Wertprämissen anfechten will, muß sich wenigstens der beschwerlichen Aufgabe unterziehen, durch immanente Kritik die impliziten Wertungen herauszufinden und festzustellen, wie sie Methode und Ergebnisse bestimmt haben."[1] Die Thesen zum "ästhetischen Vorverständnis der Anerican Studies" sind ein Versuch, eine solche in theoretischen Diskussionen häufig fehlende //110// Konkretheit zurückzugewinnen, die tatsächlich konstitutiven Interpretationsvoraus­setzungen der gegenwärtigen American Studies herauszuarbeiten und an ihrem interdisziplinären Anspruch zu messen. Damit soll der Blick auf diejenigen – nicht immer eingestandenen – Prämissen frei werden, die wirklicher interdisziplinärer Arbeit bisher immer noch im Wege stehen.

1.2 Daß jene Prämissen unbeachtet blieben, liegt an einem weiteren Mangel der bisherigen American Studies-Diskussion: sie ist primär methodologisch ausgerichtet. Das Problem wird als eins der richtigen Methode begriffen, die eben noch fehlt. Folgerichtig kann die endgültige Lösung des amerikanistischen "Dilemmas" (R. H. Pearce) nur so gedacht werden, daß sich irgendwann eine neue "synthetische" Methode finden wird. Der Weg dahin führt über methodologische Toleranz und daraus hoffnungsvollerweise erwachsende interdisziplinäre Experimente. Wo in Anbetracht gegenwärtiger interpretatorischer Realität pragmatisch zum vorläufigen methodischen "principled opportunism" (H. N. Smith) geraten wird, geschieht das doch mit der von Spiller genannten Implikation: "The tacit assumption ... that a single method, although not yet in sight, would be desirable ...".[2] Damit wird das Problem zur Suche nach einer neuen Methode verkürzt, obwohl doch Methode insbesondere in den Geisteswissenschaften immer einem unterliegenden Vorverständnis verhaftet bleibt, wie die vor allem durch Gadamer und Habermas wieder in Gang gebrachte Besinnung auf die Grundlagen der Geisteswissenschaften von neuem in Erinnerung gerufen hat. "Dadurch, daß man eine Methode durch die andere ersetzt oder ergänzt, ansonsten aber undurchschaut stehen läßt, ist noch nichts gewonnen."[3] Diese Kritik Leibfrieds könnte im Hinblick auf die American Studies geschrieben worden sein, deren Hauptproblem nicht in mangelnder Methodeninspiration ihrer Vertreter liegt, sondern in unvermeidlichen logischen Auswirkungen uneingestandener kontextualistischer Wertprämissen. Ihnen können auch neue Methodenkonstruktionen nicht entgehen, solange die Prämissen selbst nicht revidiert werden.

1.3 Damit ist auch der Ansatz bezeichnet, von dem aus die American Studies befragt werden sollen. Mit Vorverständnis sind im folgenden nicht – wie oft in der Hermeneutik – der Gedanke des partiellen Vorwissens oder der des hermeneutischen Sinnvorgriffs gemeint, sondern die der Interpretationspraxis jeweils unterliegenden erkenntnis­leitenden Wertprämissen, in deren Dienst auch die methodischen Operationen letztlich stehen. Daß diese erkenntnisleitenden Wertprämissen bzw. Wertinteressen im Fall der American Studies "ästhetische" sein sollen, mag zunächst befremden. Denn zweifellos ist ja auch dieses unterliegende ästhetische Vorverständnis von "außerästhetischen Wertungs- und Vorurteils-Kategorien bestimmt"[4] – etwa von ideologischen und sozialen Interessen. Diese umfassenderen Interessen sind jedoch in der Interpretationspraxis nicht unmittelbar konstitutiv und sind daher nicht geeignet, deren konkrete inhaltliche Ausprägung zu erklären. Denn in der Regel treten solche um//111//fassenderen Interessenbindungen fachlich transformiert und objektiviert auf; nur in wenigen naiven oder cholerischen Fällen wagen sie sich "nackt" hervor. Sie sind vielmehr jeweiligen Traditionszusammenhang des Faches in fachliche Kategorien transformiert, die bestimmte wissenschaftstheoretische Konventionen des Faches zu erfüllen vermögen. Es gilt also zunächst, sich auf solche fachimmanenten – in diesem Fall ästhetischen – Transformationen einer außerästhetischen Interessenbindung einzulassen, wenn man sich nicht damit begnügen will, die American Studies allein durch Zuordnung zu einem bestimmten Lager – etwa dem bürgerlichen oder dem positivistischen zu kritisieren.[5]

2.1 Der Amerikanist, der die Frage nach dem Beitrag der Literaturwissenschaft zu den American Studies beantworten will,[6] sieht sich dabei auf jene literarischen American Studies verwiesen, die sich seit den dreißiger Jahren in den amerikanischen English Departments als Protest gegen den herrschenden Stoffkanon und die immer entschiedener neukritisch beeinflußten Interpretationsmethoden herausgebildet haben. Ihre bekanntesten Vertreter – Kritiker wie F. 0. Matthiessen, R. E. Spiller, H. N. Smith, R. Lewis, Ch. Feidelson, R. Chase, R. H. Pearce, M. Bewley, L. Marx, L. FiedId R. Poirier – haben sowohl die amerikanische American Studies-Bewegung als auch die deutsche Amerikanistik entscheidend geprägt.

Die einflußreichste theoretische Formulierung ihres Selbstverständnisses hat H. N. Smith in seinem 1957 erschienenen Aufsatz "Can 'American Studies' Develop A Method?" geliefert. Dieser Aufsatz ist gut geeignet, noch einmal kurz das methodologische Dilemma in Erinnerung zu rufen, von dem aus die Frage nach einer neuen Methode für die American Studies laut werden konnte. Einerseits galten die sogenannten "außerliterarischen" Methoden – vor allem durch den Einfluß des New Crit//112//icism und Wellek/Warrens Theory of Literature – als überholt, weil sie das spezifisch Literarische verfehlten. Andererseits erschien die konsequente neukritische Ablehnung von allen "außerliterarischen" (insbesondere gesellschaftlichen) Beziehungen als zu weitgehend und – wie Smith im Fall von Mark Twain empfand – als offensichtlich unsinnig. Als Lösung dieses Dilemmas wird eine Methode gefordert, die sowohl literarisch als auch sozialwissenschaftlich sein soll:

What is needed is a method of analysis that is at once literary (for one must begin with an analytical reading of the texts that takes into account structure, imagery, diction, and so on) and sociological (for many of the forces at work in the fiction are clearly of social origin).[7]

Einerseits konstituieren sich die literarischen American Studies also als Korrektiv zum neukritischen Formalismus. Andererseits besteht ihr Beitrag zu den American Studies in der Insistenz auf dem Gedanken des spezifisch Literarischen. Der vermeintlich mechanisch-dokumentarischen Interpretation hoher Literatur durch die Soziologie wird entgegengehalten, daß man auch für kulturwissenschaftliche Zwecke um eine spezifisch literarische Betrachtungsweise der Literatur nicht herumkommt.

2.2 Was aber ist in diesem Fall konkret mit dem Gedanken des spezifisch Literarischen gemeint?

Dieser Begriff erlebte seine Blüte ja in den fünfziger Jahren, als man glaubte, nach vielen "außerliterarischen" Verirrungen nun endlich zur eigentlichen spezifischen Qualität der Literatur vorgestoßen zu sein; eine Qualität, die man vorzugsweise als Struktur des Werkes definierte:

Unter Struktur nun verstehen wir die Fügung der einzelnen Elemente der Dichtung zu und in einem organischen Ganzen, also nicht im Sinne einer Addition, sondern eines kunstvollen Systems, das diesen einzelnen Teilen im Ganzen ihren eigentlichen Aussagewert verleiht. Unsere Untersuchung der Struktur stellt demnach den Versuch dar, das Gesetz aufzufinden, nach dem sich die formale und gehaltliche Einheit des Kunstwerkes konstituiert. Im Gebrauch des Terminus unterscheiden wir uns damit bewußt von der modernen germanistischen Forschung, die unter Struktur von Prosawerken vornehmlich deren erzähltechnischen Aufbau versteht. Wir halten uns dagegen an seine umfassendere Bedeutung in der anglo-amerikanischen Literaturkritik, die uns am klarsten bei Rene Wellek vertreten zu sein scheint, wenn er die Begriffe 'Gehalt' und 'Form' durch 'Material' und 'Struktur' ersetzt sehen möchte: "It would be better to rechristen all the aesthetically indifferent elements 'materials', while the manner in which they acquire aesthetic efficacy may be styled 'structure'."[8]

Links repräsentative Definition ist besonders hilfreich, weil sie präzise auf die inhaltliche Ausformung hinweist, die der Begriff vor allem in der angelsächsischen Kritik erfahren hat. Dort steht er für eine bestimmte ästhetische Qualität: die der autonomen organischen Einheit oder Ganzheit (zuweilen auch als~"inner coherence", "inner balance", "internal order" usw. bezeichnet). Nach dieser Definition mag zwar jeder Text "Material" enthalten, aber nicht unbedingt "Struktur". Im Gegenteil, literarische Kunstwerke unterscheiden sich von Nicht-Kunstwerken eben dadurch, daß sie eine //113// Struktur besitzen, d. h. "ein Gesetz ..., nach dem sich die formale und gehaltliche Einheit des Kunstwerks konstituiert."

Struktur ist synonym für Einheit bzw. Ganzheit und damit für einen dem romantischen Organizismus entnommenen Gestaltgedanken, für den später Bezeichnungen wie "tension", "texture", "ambiguity", "gesture" und "irony" geprägt wurden, der aber von I. A. Richards als "context" in die angelsächsische Literaturkritik eingeführt worden ist. M. Krieger hat daher zur Bezeichnung der neukritischen Ästhetik die Bezeichnung "Kontextualismus" geprägt, die hier übernommen werden soll, weil damit im Gegensatz zu üblichen Benennungen – wie etwa "New Criticism" – präzise auf die zentrale ästhetische Prämisse dieser literarästhetischen Position hingewiesen wird:

But it is precisely this locating of the unity in the context of the object, regardless of all idiosyncratic responses (and all actual responses are seen as more or less idiosyncratic), that markedly unifies contextualist critics and indeed led me to bestow the term "contextualist" upon them.[9]

Unter den "pressures of context" verstanden Richards und die New Critics jene geheimnisvolle Kraft, die der normalen Alltagssprache in einem literarischen Kunstwerk ihre Bezeichnungsfunktion nimmt und sie innerhalb des Textes zu einem autonomen, sich selbst genügenden inneren Beziehungsgefüge werden läßt:

These critics unanimously affirm that, while the words of a poem, considered atomistically, may function referentially, the poetic structure of words, considered contextually, prevents the individual words from so functioning.[10]

Es leuchtet ein, daß ein solcher Text nicht einfach auf seine – etwa kulturelle oder gesellschaftliche – Bedeutung befragt werden kann. Denn sein "eigentlicher Aussagewert" ist von dem in sich geschlossenen, werkimmanenten Beziehungssystem nicht ablösbar und kann deshalb auch nur in diesem selbst bestehen.

2.3 Das alles ist bekannt und braucht hier nur angedeutet zu werden. Was bedeutet es aber für eine in diesem Sinne spezifisch literarische Interpretation? Für den kontextualistisch beeinflußten Kritiker erweist sich der literarische Wert eines Textes an seiner organisch-ganzheitlichen Struktur. Die interpretatorische Ausgangslage kann daher nur die von Frye – in einer Einführung in die Interpretation – genannte sein: "The primary understanding of any work of literature has to be based on an assumption of its unity."[11] Bereits vor der Interpretation steht also fest, daß der Kritiker, will er den Text als literarisches Meisterwerk affirmieren, seine Strukturanalyse im Nachweis der Einheit des Werkes gipfeln lassen muß. Struktur- bzw. Gestaltanalyse besteht im Auffinden des Gesetzes, aus dem heraus sich eine Einheit des Textes konstruieren läßt. Daß diese existieren muß, wird vorausgesetzt; anderenfalls handelt es sich eben nicht um literarisch wertvolle Literatur. Gehört ein Werk wie Huck Finn zum Kanon amerikanischer Meisterwerke, so braucht nicht mehr überprüft zu werden, ob der Roman auch nach dem Gestaltprinzip organisiert ist. Es kann als Arbeitshypothese von seiner Einheit ausgegangen werden. Wo die "Oberfläche" des Textes //114// diese Hypothese nicht unmittelbar zu bestätigen vermag, kann das nur zusätzlicher Ansporn sein, "tiefer" im Text nach dem Gestaltprinzip zu suchen.

H. N. Smith macht diesen Systemzwang, genauer: Gestaltzwang unbewußt im folgenden Zitat klar:

We must try to see the book integrally. How well has Mark Twain succeeded in organizing his material into a coherent and unified whole? And what does this whole mean?[12]

Wichtig ist die logische Reihenfolge der Fragen. Erst muß eine strukturelle Ganzheit aus dem Text konstruiert werden, bevor nach deren Sinn gefragt werden kann. Nach Smith ist nicht zu fragen: "What does this text mean?", vielmehr: "What does this (coherent and unified) whole mean?" [Hervorhebungen v. Verf.]. Interpretiert wird nicht der Sinn des Textes, sondern der Sinn einer zuvor aus dem Text herauskonstruierten einheitlichen Struktur. Selbst Texte, die wie Huck Finn nie als einheitliche Gestalt geschaffen wurden, müssen zunächst zu einem organischen Ganzen "geschlossen" werden, bevor ihre Deutung beginnen kann. Folgerichtig muß auch der ansonsten differenziert argumentierende Smith seine Interpretation schließlich im Nachweis der grundsätzlichen strukturellen Einheit Hucks münden lassen, obwohl er selbst zuvor vielfältiges Material gegen diese Sicht bereitgestellt hat.[13]

2.4 Offensichtlich kann solches Vorgehen nur bestimmter Literatur gerecht werden. Was häufig geschieht, ist, daß die ästhetischen Werte, die Literatur nach kontextualisti­scher Sicht zu einem Kunstwerk machen, auf einen nicht-kontextualistischen Text projiziert werden. So etwa im Fall der Huck Finn-Kritik der fünfziger und sechziger Jahre, in der man mit immer absurderen Strukturschlüsseln versucht hat, auch in offensichtlich dysfunktionalen Elementen wie dem Ende strukturelle Einheit nachzuweisen. Gleiches gilt für Werke unzähliger Autoren von Homer über Chaucer und Shakespeare bis hin zu Kafka. Vor allem die amerikanische Literaturkritik der fünfziger und sechziger Jahre quillt über von unzähligen "patterns", "dualisms", "rhythms", "repetitions plus variation", "polarities" und "juxtapositions", von denen kaum ein Autor verschont bleibt. Sie sind nun begreiflich als die für einen Kontextualisten unverzichtbare Konstruktion einer organischen ganzheitlichen "Struktur" aus einem durch Wiederholung auffallenden, in der Regel inhaltlich beliebigen Textelemnent.

Es bleibt zu fragen, ob damit dem Kontextualismus nicht Unrecht getan ist, der doch viele überzeugende Interpretationen aufzuweisen hat. Das Rätsel löst sich, wenn man eben das berücksichtigt, was die Kontextualisten ausklammern wollten: die geschichtliche Bedingtheit ihrer eigenen Position.

Jeder Versuch einer voraussetzungslosen, "rein werkimmanenten" Interpretation, wie man sagt, ist deshalb eine Illusion. Denn ein solcher Ansatz verhilft dem Interpreten nicht zu einer geschichtslosen Gültigkeit, sondern unterwirft ihn seinen unbedachten geschichtlichen Vorurteilen, die sich hier in der irrigen Meinung äußern, das Sprachkunstwerk //115// sei wesentlich durch seine evidente interne Struktur bestimmt, das heißt durch eine Zusammengesetztheit aus Teilen unterschiedlicher Bedeutung und Funktion.[14]

Kontextualismus ist kein endlicher Durchbruch zum eigentlich Literarischen, sondern – genau so unvermeidlich wie jede andere Methode auch – Reflex einer geschichtlich­bedingten ästhetischen Norm. An den Gestalt- bzw. Strukturprinzipien einer bestimmten modernen Kunst entwickelt, zu deren Verständnis er auch wesentlich beiträgt, verallgemeinert er diese Strukturprinzipien unzulässig zum Literarischen schlechthin:

Or, consider a sad example from modern literary criticism. Some of the so-called "New Critics", having with commendable discernment extracted, mainly from the poetry of Donne and Eliot, a certain type of relation of parts, have proceeded to hold it up as the pattern of all good poetry.[15]

Durch nichts aber sind die solcherart ermittelten ästhetischen Werte als das "eigentliche" oder "spezifische" Element der Literatur legitimiert. Was Meyer Schapiro im Hinblick auf Kunst im allgemeinen sagt, gilt auch für die Literatur im besonderen:

... the qualities of perfection, coherence, and unity of form and content ... As criteria of value they are not strict or indispensable; there are great works in which these qualities are lacking. Coherence, for example, will be found in many works that fail to move us, and a supreme work may contain incoherence.[16]

3.1 In welcher Weise beeinflußt nun diese oft unreflektierte Identifikation kontextualistischer Wertprämissen mit dem spezifisch Literarischen die literarischen American Studies? Ich möchte ein, wie ich glaube, repräsentatives Beispiel aus The Machine in the Garden geben, das ja sowohl in den USA als auch in der BRD in den letzten Jahren immer wieder als vorbildlich gepriesen wurde. Es betrifft Huck Finn, gleiches gilt jedoch für die meisten Beispiele hoher Literatur, die Marx behandelt.

Bei seiner Huck Finn-Interpretation fällt sofort die wichtige Rolle auf, die einem Handlungsdetail zugewiesen wird, das bisher immer nur als Trick Twains angesehen wurde, um seine drängenden Handlungsprobleme zu lösen, und dem ansonsten keine Relevanz im Roman zugeschrieben wurde: es handelt sich um den Moment in Kap. 16, als plötzlich ein Dampfboot aus dem Nebel auftaucht und Hucks und Jims Floß zum Kentern bringt. Was ist der Grund für die überraschende Relevanz, die dieses isolierte Handlungsdetail bei Marx erhält?

Bekanntlich will Marx die zentrale Kontinuität des "Sleepy-Hollow"-Motivs in der amerikanischen Imagination nachweisen, also den Konflikt von pastoraler und technologischer Metaphorik:

Yet in retrospect we can see that this ordinary experience, partly because of its typicality, was one of those inconspicuous moments of discovery that has proven to be decisive in the record of our culture. What the writer discovers, though he by no means recognizes its importance, is a metaphor ... What I am saying, in other words, //116// is that Hawthorne's notes mark the shaping (on a microscopic scale to be sure) of a metaphoric design which recurs everywhere in our literature.

Since 1844, this motif has served again and again to order literary experience. It appears everywhere in American writing. In some cases, to be sure, the "little event" is a fictive episode with only vague, incidental symbolic overtones. But in others it is a cardinal metaphor of contradiction, exfoliating, through associated images and ideas, into a design governing the meaning of entire works.[17]

Wie er in seinem Aufsatz "American Studies – A Defense of an Unscientific Method"[18] schreibt, in dem er sein Vorgehen in The Machine in the Garden noch einmal nachzeichnet, war dieser Nachweis bei anderer als hoher Literatur relativ einfach. Schwierigkeiten boten dagegen Texte der hohen Literatur wie Huck Finn oder "Ethan Brand", in denen technologische Metaphorik explizit keine nennenswerte Rolle spielt. Andererseits kann und soll auf sie nicht verzichtet werden, wenn man wie Marx darauf insistiert, daß hohe Literatur von besonderer Aussagekraft für das Wesen der amerikanischen Kultur ist. Um nun die behauptete zentrale Metaphorik z. B. auch in Huck Finn etablieren zu können, bietet sich in der ausgesprochen vorindustriellen Welt des Romans weit und breit nur das Dampfboot an:

In a key passage, Mr. Marx explains that in Huckleberry Finn the destruction of the raft by the steamboat reveals Twain's participation in this theme despite Twain's avowed faith in industrial progress and despite his lack of conscious symbolism in the incident.[19]

Auf dieses Bild wird jedoch nicht bloß hingewiesen als eines unter anderen, es muß gleichzeitig als strukturell zentral etabliert werden. So kommt es zur Konstruktion, wie sie in folgendem Zitat erscheint:

The theme that connects these sharp pictures of Huck's relation with Jim, setting them against the abstract moral code he feels obliged to honor, is caring. In caring for each other he and Jim had formed a bond whose strength is now put to a test. The pilot of the monstrous steamboat, on the other hand, had used his power with an arrogant negligence - a carelessness - typical of this raw Mississippi world.[20]

H. N. Smith hatte in seinen Interpretationen den moralischen Konflikt Hucks als zentrales Strukturelement des Buches bezeichnet. Marx schließt sich dieser Interpretation einerseits an. Andererseits soll das "Sleepy-Hollow"-Motiv seiner These nach eine zentrale Rolle spielen. Die Verbindung wird durch eine ebenso einfallsreiche wie kühne Analogie geschaffen. Als Thema des Hudkschen Gewissenskonflikts wird "caring" genannt. Dann wird dem Dampfbootpiloten arrogante Nachlässigkeit, sprich "carelessness" bescheinigt, und unversehens ist damit – durch die Wortassoziation mit der Wurzel care die Dampfbootszene mit den zentralen Szenen des Buches verbunden.

3.2 Dieser Trick ergibt sich als logischer Zwang aus bestimmten Prämissen von Marx: Macht man problematisierte Naturdarstellung zur Bedingung "hoher" literari-//117//scher Pastorale, so braucht man in jedem Falle eine in die Natur einbrechende Gegenkraft ("counterforce"). Ist Gegenkraft als Industrialisierung begriffen, so muß sie in technologischer Bildlichkeit erscheinen. Will man nun Huck Finn als anerkanntes amerikanisches Meisterwerk in dieser Tradition sehen, so gilt es, technologische Intervention der Realität in ihm nachzuweisen, und das einzige Bild, in dem der so festgelegte amerikanische "Mythos" zu finden ist, ist weit und breit der jähe Einbruch des Dampfbootes. Es ist also kaum übertrieben zu sagen, daß dieses Bild Huck für die von Marx konstruierte spezifisch amerikanische Tradition buchstäblich rettet.

The Machine in the Garden liest man mit gemischten Gefühlen. In den ersten Kapiteln handelt es sich um ein interessantes und informatives Stück Ideengeschichte. Die ideologische Reaktion auf die Industrialisierung ist überzeugend beschrieben. Gewiß haben amerikanische Schriftsteller wie Hawthorne, Twain oder Norris Aspekte dieser Reaktion aufgegriffen, um ihren Büchern zusätzliche emotionale Intensität zu verleihen. Wo es aber darum geht, diese Reaktion auch zum ästhetisch kontrollierenden Ordnungsprinzip ihrer Bücher zu erheben, müssen sich notwendige interpretatorische Verzerrungen einstellen, ob es sich um Walden, "Ethan Brand", Moby Dick, Huck Finn oder The Octopus handelt.

Nicht daß ein Text wie Huck Finn bestimmte implizite Haltungen zur Industrialisierung enthält, erscheint fragwürdig, sondern daß diese Haltung das Buch ästhetisch ordne. Denn eben um diesen Beweis zu führen, müssen isolierte, aber explizite technologische Bildlichkeit und vermeintlich gesicherte Bedeutung des Textes miteinander vermischt werden. Das geschieht auf dem Wege der Analogie. Diese kann jedoch nicht inhaltlich sein, denn ihrem expliziten Inhalt nach verbindet beide Sphären nichts. Nirgends spielt in der ausgesprochen vorindustriellen Gesellschaft entlang des Mississippi die Maschine eine Rolle. Gerade dadurch wird ja eine Analogie anstelle eines direkten Bezuges erst notwendig. Bringt man jedoch Hucks Entscheidung gegen sein Gewissen auf den Begriff "caring" und sieht sodann in der technologischen Bildlichkeit "care-lessness" am Werk, so ist dieser Bezug unversehens geschaffen und Maschine und Hucks Gewissen werden identischer Ausdruck ein und desselben Konfliktes. Auf diese Weise wird eine geschickte indirekte Identifikation hergestellt, und der typisch amerikanische Gegensatz von Natur und Maschine, der explizit nur in einer isolierten Szene erkennbar ist, wird durch Analogieevidenz auch zum strukturell zentralen Motiv des Buches.

Ähnlichen Mustern folgen die Interpretationen von "Ethan Brand" und Moby Dick, von Texten also, die ja ebenfalls eine explizite Ausprägung des "Sleepy-Hollow"-Motivs vermissen lassen. Ober eine komplizierte "chain of virtually free association"[21] wird ein explizites Motiv des Textes erstens als "Gegenkraft" zur pastoralen Idee etabliert. Damit ist die pastorale Idee Bestandteil eines expliziten pattern. Nun kann zweitens diese explizite Gegenkraft durch Analogie als Verschlüsselung technologischer Metaphorik enthüllt werden, und die Kontinuität des "Sleepy-Hollow"-Motivs ist gesichert: "... fire is a surrogate for the 'machine' in this variant of the Sleepy Hollow motif ..."[22] Ebenso überraschend ist der Nachweis dieser vermeintlich zentralen Metapher amerikanischen Denkens in Moby Dick://118//

The horrifying idea of a fall from the heights of pastoral revery into the undersea vortex of material reality is the counterpart, in this variant of the motif, to the railroad's sudden incursion in Sleepy Hollow.[23]

3.3 Warum begibt sich Marx auf dieses dünne Eis der Analogieevidenz, anstatt sich damit zu begnügen, die von ihm ausgewählten "Klassiker" auf mögliche implizite Kommentare zu einem Thema wie Industrialisierung zu befragen?

Hier gilt es zunächst eine weitere, mit dem Kontextualismus übernommene Prämisse zu berücksichtigen. Hoher Literatur wird ein 'besonderer Erkenntnisstatus zugewiesen, der sich von dem einfacher Dokumente und populärer Texte qualitativ unterscheidet. Marx gibt es von vornherein auf, hohe Literatur mit ihnen in direkte Konkurrenz treten zu lassen:

Not only must the humanist grant that Moby Dick had no immediate public appeal, but he also should grant that it is no more valuable than many lesser works of fiction as a "reflection" of objective reality. Quite the contrary, so far from crediting the indefensible claim that the best books somehow provide a more reliable mirror image of actuality, that they are more representative of "the spirit of the age," it seems more reasonable to argue that the books of the 1850's which we now value least - the truly .popular novels of the age - are the most useful as historical documents of this kind.[24]

Dennoch ist die Beschäftigung mit hoher Literatur auch für die American Studies unverzichtbar:

In distinguishing the two methods, however, the significant point is the indispensability to the humanist, and in spite of its ambiguous sociological status, of the category of "high" culture.[25]

Unverzichtbar deshalb, weil in hoher Literatur die einfache Dokumentationsfunktion des populären Textes transzendiert und eine "tiefere" Wahrheit über die amerikanische Kultur vermittelt wird.

Wodurch aber geschieht das? Durch eben jene Qualität, die Literatur nach zugrunde liegenden kontextualistischen Prämissen erst als "literarisch" wertvoll und damit als hohe Literatur qualifiziert: die ganzheitliche Gestalt oder Struktur, die der Alltagssprache im Werkganzen eine neue "eigentliche" Aussagefunktion qua Gestalt zuweist. Die diskursive Aussage, die "message", ist daher von geringem Interesse. Was zählt, ist die Bedeutung der dem Werk Autonomie und Einheit verleihenden Strukturgestalt, die in der Interpretationspraxis in der Regel als pattern oder dualistische Metapher beschrieben wird:

Because the language of imaginative literature tends to be figurative, and because the controlling context of the individual work usually is magistic or metaphoric, the message – the element reducible to a discursive statement – is only a part and not necessarily the most important part of the meaning.[26]

Die Ingeniosität dieser Lösung besteht darin, daß der besondere kognitive Status hoher Literatur unmittelbar mit ihrem kontextualistisch definierten literarischen Wert //119// identisch wird. Es wird versucht, die besondere Erkenntnisleistung der Literatur unmittelbar in dem zu verankern, was als spezifisch an ihr empfunden wird. Der literarische Wert im kontextualistischen Sinne – wie es gelungen ist, Material zu einer ästhetischen Einheit zu formen – wird gleichzeitig zur Quelle der (auch kulturell) überlegenen Erkenntnisfunktion der Literatur. Andererseits: wo der das Werk kontrollierende und transformierende Kontext fehlt, ist auch keine "tiefere" Wahrheit über das Wesenn der amerikanischen Kultur zu erwarten. Daher das Desinteresse an realistischer Literatur.

Marx kann sich also nicht damit begnügen, einen Text wie Huck Finn einfach auf bestimmte Aussagen – etwa zur Industrialisierung – hin zu befragen. Das hieße ihn nicht anders behandeln als andere beliebige Texte auch. Literatur soll auch in ihrer kulturellen oder gesellschaftlichen Bedeutung nur qua Literatur behandelt werden – und nicht als direkte Wirklichkeitsaussage. Denn als Literatur unterliegen ihre "Aussagen" einer eigenen Gesetzlichkeit, deren Eigenarten es zu kennen gilt, wenn man den Text nicht mißverstehen will. Diese prinzipiell richtige Einsicht entwertet sich jedoch selbst, soweit dabei unbesehen das "Literarische" mit seiner Definition durch die kontextualistische Ästhetik gleichgesetzt wird. Nun muß die gesellschaftliche Bedeutung gleichzeitig als einheitliches Strukturprinzip des Textes nachgewiesen werden, will man den Vorwurf des "außerliterarischen" Ansatzes vermeiden. Jede gesellschaftlich oder kulturell relevante Erkenntnis muß sich auch in der Struktur des Textes aufweisen lassen, um sie für den Kritiker als spezifische Erkenntnisleistung der Literatur zu qualifizieren. Das aber heißt nach kontextualistischen Prämissen: sie ist ein für alle Male als wiederkehrendes Strukturelement, als pattern oder dualistische Metapher, festgelegt.

4.1 Diese Festlegung hat bestimmte methodologische Auswirkungen und theoretische Konsequenzen, denen man in den literarischen American Studies allenthalben begegnet. Die erste ist die Verlagerung des Interpretations- und Evidenzbereichs von der Ebene der "overt structure" des Textes auf die Ebene der "covert structure". Bereits die als zentral behauptete Metapher an der "Textoberfläche", d. h. explizit, zu lokalisieren, bereitet ja oft Schwierigkeiten. Das zeigt sich zuweilen bei Marx – oder etwa auch bei Poirier:

This short story is particularly useful for an understanding of complex pastoralism and the experience that generates it, in spite of the fact that - or perhaps because - it exhibits only part of the motif. The pastoral ideal figures prominently in the tale, but the new technology does not. On the surface, at least, there is no indication that "Ethan Brand" embodies a significant response to the transformation of life associated with machine power.[27]

These are rather grim suggestions, when in fact the experience of reading the opening chapters is not grim at all ... The undercurrent has been indeed "so 'very profound" that it has never been clearly exposed beneath the surface of the first three chapters, which even some recent commentators have described as belonging to the tradition of Tom Sawyer.[28] //120//

Auch da, wo es schließlich gelingt, die gewünschte Metapher zu etablieren, ist sie selten zugleich auch noch explizites Strukturprinzip des Textes. Dieser Nachweis ist für eine Strukturanalyse im beschriebenen Sinne jedoch unverzichtbar. Können die gewünschten Bedeutungen beim besten Willen nicht mehr direkt als strukturelle Gestalt in den Text projiziert werden, dann müssen sie deshalb als Analogie zu einem expliziten pattern auf einer unterliegenden, zunächst verborgenen Ebene des Textes angesiedelt werden. Strukturelle Einheit läßt sich mit anderen Worten nur herstellen, wenn man "explicit meaning" durch "underlying meaning" ergänzt, oder – wie Smith – die Kontinuität der "overt structure" plötzlich auf der Ebene der "covert structure" weiterführt, sobald das an der Textoberfläche nicht mehr möglich ist: "The book has a basic unity of theme despite Mark Twain's pronounced shift in overt structure."[29] Das Ausweichen auf die Ebene der "covert structure" ist logisch unverzichtbar, denn nur auf ihr läßt sich der Text in der Regel noch auf die gewünschte kulturelle Bedeutung einen.

Damit wird die "covert structure" zum eigentlichen Interpretationsobjekt, während 'die "overt structure" nur noch als Verschlüsselung einer verborgen liegenden "eigentlichen" Aussage verstanden wird. Die Analogie- und Assoziationstechnik, mit deren Hilfe die "covert structure" entschlüsselt wird, hat den zusätzlichen Vorteil, den Kritiker aller Evidenzprobleme zu entheben. Der Rekurs auf verschlüsselte symbolische Ebenen mit Hilfe der Analogietechnik ist ebensowenig widerlegbar, wie die mit ihrer Hilfe erstellte Konstruktion einer dualistischen Gestalt.

4.2 Eine zweite Auswirkung der kontextualistischen Gestaltprämisse ist im Kulturbegriff der genannten American Studies-Kritiker erkennbar. Danach hat hohe Literatur einen besonderen Zugang zum tieferen Wesen der Kultur, der sogenannten "covert culture":

The great writer is a sensitive observer, and needless to say he does not merely project his culture. On the contrary, often he consciously reveals covert elements that less perceptive artists ignore; moreover, he sometimes reveals them precisely by turning stereotypes inside out.

Critics concerned with the devious ways in which a society nurtures its men of letters cannot afford to neglect the existence of covert culture and the writer's response to it. Here is a major source of those tensions that give a work of literary art its structure, its irony, and its stylistic signature.[30]

Auch hier ist eine Teilwahrheit, daß nämlich die expliziten Aussagen eines Kultur­zusammenhangs noch lange nicht die ganze Wahrheit über diese Kultur verraten, durch die kontextualistische Prämisse zu einem verhängnisvollen System- und Gestaltzwang geworden.

Da die "verborgene': Wahrheit nur in der hohen Literatur aufscheint, und zwar genauer in dem, was diese Literatur als spezifisch literarisch qualifiziert – nämlich der struktu­rellen Gestalt –, so ist von vornherein darüber entschieden (beabsichtigt oder unbeabsichtigt), daß diese tiefere Erkenntnis über die amerikanische Kultur auch nur //121// in einer metaphorischen (meist dualistischen) Gestalt erscheinen kann. Metaphern und Symbole als die für den Kontextualismus "eigentlichen" literarischen Bedeutungsträger werden so zu Schlüsseln der amerikanischen Kultur. Dem entspricht eine durchgehende Tendenz in den gegenwärtigen literarischen American Studies, das Wesen der amerikanischen Kultur in einer dualistischen Metapher einfangen zu wollen:

The American imagination ... seems less interested in redemption than in the melodrama of the eternal struggle of good and evil, less interested in incarnation and reconciliation than in alienation and disorder.[31]

The style of the most exciting American books is not one of consensus or amelioration among its given constituents, but a style filled with an agitated desire to make a world in which tensions and polarities are fully developed and then resolved [32]

Der hier zugrundeliegende Kulturbegriff ist deutlich kontextualistisch; die eigentliche "Wahrheit" über die amerikanische Kultur ist von vornherein als dualistische Metapher festgesetzt. Es ist nicht schwer zu erkennen, wie maßgeschneidert diese Theorie für die Bedürfnisse eines Literaturwissenschaftlers ist, der gesellschaftliche Relevanz in seine Studien bringen will, ohne seine ursprünglichen ästhetischen Prämissen aufgeben zu müssen. Das Studium hoher Literatur kann bruchlos weitergeführt werden mehr noch, zum erstenmal ist eine primär formale Interpretation von metaphorischen und anderen formalen Strukturen als Schlüssel zum tieferen Wesen der amerikanischen Kultur legitimiert und der Literaturwissenschaftler als der eigentliche Kulturwissenschaftler bestätigt.

4.3 Dieser Kulturbegriff ist nur auf eine Art und Weise zu rechtfertigen: nämlich nur dann, wenn tatsächlich gesichert wäre, daß das eigentliche Wesen einer Kultur (oder zumindest der amerikanischen Kultur) immer in einer (dualistischen) Gestalt aufscheinen würde. Damit wäre der Kulturbegriff der American Studies sozusagen nichts anderes als eine Abbildung der Realität. Folgerichtig wird er durch eine entsprechende Theorie vom Wesen der amerikanischen Kultur untermauert, der "dialectical theory of culture":

... Trilling asserts: "A culture is not a flow, nor even a confluence; the form of its existence is struggle, or at least debate - it is nothing if not a dialectic." What Trilling is proposing here may be called a dialectical theory of culture. The "very essence" of a culture, he says, resides in its central conflicts, or contradictions, and its great artists are likely to be those who contain a large part of the dialectic within themselves, "their meaning and power lying in their contradictions." Whatever its shortcomings as a universal theory, Trilling's definition has proven remarkably useful in the interpretation of American writing in the nineteenth century - a period when, as he says "an unusually large proportion of ... notable writers ... were such repositories of the dialectic of their times ..."[33]

Erst dadurch, daß von vornherein feststeht, daß das Wesen der amerikanischen Kultur nur in einem dualistischen Konflikt bestehen kann, kann sicher sein, daß die kontextualistisch ermittelte dualistische Metapher auch genau diesem "tieferen" Wesen der amerikanischen Kultur entspricht. //122//

Das methodische Vorgehen der analogischen Aufschlüsselung des Textes auf der Ebene der "covert structure" ist damit durch eine Kulturtheorie abgesichert, in der eine analogische Beziehung von vornherein verbürgt ist. Das tiefere, eigentliche Wesen der amerikanischen Kultur wird nach dieser Kulturtheorie zuverlässiger durch metaphorische und symbolische Gestalten als durch Inhalte repräsentiert; ja genauer: allein in der literarischen Gestalt kann die ansonsten begrifflich nicht zu fassende "verborgene" existentielle amerikanische Realität zum Ausdruck kommen. Das ist der Grundgedanke dieses "new historicism":

But this historicism would seem clearly to be a new historicism in contrast to older attempts to relate literature to its social origins - in its resistance to the more rationalistic or intellectualistic attempts to reduce literature to extra-literary ideology ... Its context is not reducible to a set of propositions (any more than Brooks' poetic context) but is an elusive existential context which only the organic principle can begin to approach.[34]

5.1 The Machine in the Garden ist hier als ein besonders diskussionsträchtiges Beispiel herausgegriffen worden. Selbstverständlich zeigen nicht alle Kritiker innerhalb der American Studies die Auswirkungen kontextualistischer Prämissen in gleichem Ausmaß. Vor allem frühe Kritiker sind oft eher geistesgeschichtlich orientiert als kontextualistisch. Bei anderen, etwa im Falle Fiedlers, scheint ein umfassender Eklektizismus das aufgezeigte Muster zu sprengen, und erst eine genauere Analyse, die hier weggelassen werden muß, kann es als dennoch konstitutiv für den Gesamtzusammenhang aufweisen, in dem viele nützliche Teileinsichten, aber auch ebensoo viele Absurditäten in einem Buch wie Love and Death in the American Novel stehen. H. N. Smith dagegen scheint in Mark Twain: The Development of a Writer frei von den beschriebenen Auswirkungen zu sein, signifikanterweise mit der einen Ausnahme Huck Finn, das er als literarisches Meisterwerk herausstellen will und das er sich deshalb nur als durch ein zentrales pattern geordnet vorstellen kann.

Theoretische Prämissen wie die hier beschriebenen sind nicht für alle Einzelphänomene konstitutiv, wohl aber für die grundsätzliche Richtung, in der sich die American Studies gegenwärtig bewegen. Mehr noch, sie kennzeichnen wesentliche Tendenzen in der Entwicklung der amerikanischen Literaturwissenschaft insgesamt – wie ich glaube zwangsläufigerweise, denn dort wird ja im wesentlichen von denselben Prämissen ausgegangen. Wenn oben im Zusammenhang mit der amerikanischen Kulturtheorie von einem "new historicism" die Rede war, so wurde diese an sich in der American Studies-Diskussion nicht gebräuchliche Kategorie nicht zufällig gewählt. Sie soll vielmehr die ins Auge fallende Verbindung zwischen den literarischen American Studies und anderen Versuchen herstellen, den als unzulänglich empfundenen Kontextualismus zu überwinden. In jedem Fall führen dabei analoge Prämissen zu analogen logischen Auswirkungen: eine willkommene zusätzliche Evidenz für die Zwangsläufigkeit der von mir beschriebenen Entwicklung. Die Diskussion und Kritik der American Studies gewinnt hier paradigmatischen Wert für die gegenwärtige amerikanische Literaturwissenschaft. //123//

5.2 Ein charakteristisches Beispiel ist der Aufsatz "Historicism Once More" von R. H. Pearce, der – obwohl Amerikanist – in diesem Fall nicht speziell zu Problemen der American Studies, sondern der Literaturwissenschaft allgemein Stellung nimmt. Diese sind allerdings wohlvertraut: der Literaturwissenschaftler sieht sich zwischen "New Critical anti-historicism" und "reductionist historicism". Ihnen wird als Synthese ein "'new' historical criticism" gegenübergestellt. Unverzichtbar ist auch für diesen "'new' historical criticism" ein traditionelles (kontextualistisches) Kriterium:

Thus as critics and readers, we still must work with a traditional criterion: the ideal possibility that a work of art may or may not, or indeed may only partly, achieve wholeness. (To say this is, of course, to subscribe to a version of the "organismic" theory of literary form.) But I have hoped to re-define the criterion somewhat: first, by noting that historically contingent cultural data, through language, have a crucially significant role in the "meaning" of the literary work, in all its wholeness; and second, by noting that the literary work has as its end the objectification of such historical data as they may be formed into ideally possible wholes. The wholeness, as I have said, ultimately derives from the writer's (and reader's) sense of humanitas.[35]

Die hier versuchte Modifikation des kontextualistischen Organizismus beruht im wesentlichen auf dem Gedanken, daß das Ordnungsprinzip der (nach wie vor unverzichtbaren) organischen Werkgestalt nicht mehr in einem textimmanenten Strukturprinzip besteht, sondern in dem, was Pearce humanitas nennt:

The value of a literary work, we can conclude, may be measured precisely as it is a whole structure, whose very ordering into wholeness is set by its realization of its potential of humanitas.[36]

Diese steht für "those paradoxical qualities which mark us as men ...", an anderer Stelle für "those existential contrarieties which, as it is endowed with humanitas, the literary work manifests."[37] Statt durch innertextliche Polaritäten wird die Struktur des Werkes nun durch existentielle Polaritäten gebildet. Die "Überwindung" des Kontextualismus besteht in der Übertragung des kontextualistischen Gestaltprinzips auf die Geschichte. Als tiefere existentielle Wahrheit, die "profunde" Literatur für uns aus der Geschichte herausgreift, kann daher auch nur aufscheinen, was "profunde" Literatur innerliterarisch prägt: das Leben ist durch Paradox und Polarität gekennzeichnet.

5.3 Auch der Kontextualismus selbst hat ja in den letzten Jahren immer stärker werdende Einwände gegen das Autonomiepostulat dadurch zu berücksichtigen versucht, daß man dem "new criticism" einen "new historicism" zur Seite gestellt hat; so etwa in M. Kriegers programmatischem Aufsatz "Critical Historicism: The Poetic Context he Existential Context":

My title indicates yet another in a wearying succession of attempts to merge the objectives of the antagonists, to construct a new bridge that would connect the insular study of literature as literature with the mainland of man's concern as a social and historical being; in short, to discover the role of literature in an existential anthropology.[38] //124//

Die "soziale und historische Rolle des Menschen" ist mit anderen Worten von vornherein als "existentielle" festgelegt. Auch der soziale Bereich ist letztlich ein "elusive existential context, which only the organic principle can begin to approach."[39]

Hält man am Gestaltgedanken als Schlüssel auch zur geschichtlichen und sozialen Realität fest, so hat man immer nur zu einer Art von Realität Zugang: Kultur ist "a complex of unformulated forces which is inaccessible except through that culture's symbolic structures ..."; Geschichte kann nur in der Form von "existential and preconceptual forces" in die Literatur eindringen; Literatur wird zum Ausdruck von "otherwise unavailable existential forces of the cultural context"; "thematics" als die von Krieger empfohlene neue Methode ist "... the study of the existential tensions which, dramatically entangled in the literary work, become an existential reflection of that work's aesthetic complexity."[40]

Aus dem Willen heraus, literarischen Wert und "außerliterarischen" Bezug zu versöhnen, wird der kontextualistische Gestaltbegriff auch auf den gesellschaftlichen Bereich übertragen. Statt diesen auf den Begriff zu bringen, müht man sich, ihn als geschlossenes, begrifflich unzugängliches Beziehungsgefüge zu erfassen: "We have, then, two organicisms, two contextualisms, one locating the unique and untranslatable Gestalt in the poem and the other locating it in the momentary complex of social forces."[41]

5.4 Ganz gleich, ob man also in der Absicht beginnt, die Methode der American Studies oder Thematics anzuwenden; ob man einen "new historicism" oder einen um /zumanitas kreisenden "new historical criticism" schaffen will: immer führen die weitaus entscheidenderen kontextualistischen Wertprämissen dazu, daß man trotz der ambitiösen Absicht, Literaturwissenschaft auf eine Kultur- oder gar Gesellschaftswissenschaft hin auszuweiten, in Wirklichkeit nur als "spezifisch literarisch" empfundene Gestalten auf die Kultur überträgt. Der uneingestandene Kontextualismus führt zur Übertragung "literarischer" Strukturen auf gesellschaftliche, der "poetic context" wird einfach zum "existential context" bzw. zur "culture of contradictions" erweitert. Darin besteht – um zur Fragestellung der Tagung zurückzukommen – im wesentlichen der gegenwärtige Beitrag der (amerikanischen und deutschen) Literaturwissenschaft zu den American Studies als einer Kulturwissenschaft. Nur in der Überwindung ihres uneingestandenen Kontextualismus ist daher meiner Meinung nach ein Fortschritt für die American Studies in Richtung auf eine tatsächlich interdisziplinär arbeitende Kulturwissenschaft zu erwarten, der Gesellschaft nicht zu einem ewigen metaphysischen Grundmuster gerinnt.

6.1 Es wäre allerdings falsch zu glauben, daß die "Abkehr vom Kontextualismus" nur die Abkehr von einer ästhetischen Position bedeute. Wie eingangs angedeutet, ist das ästhetische Vorverständnis kein isoliertes Phänomen (auch wenn es bis jetzt im Vordergrund stand). Offensichtlich ist es selbst Ausdruck tieferer sozialer und daraus erwachsender ideologischer Bedürfnisse. Denn die "tiefere" existentielle Wahrheit über Amerika, die die Literaturwissenschaft in die American Studies bislang eingebracht //125// hat, trägt ja bestimmte gesellschaftliche Inhalte, deren hervorstechendstes Merkmal eine geschichtspessimistische "power of blackness" (H. Levin) ist. Mit der Übertragung des Gestaltprinzips auf die Kultur ist ein Untertauchen unter die gesellschaftliche Realität und eine Apotheose metaphysischer bzw. existentieller Konstanten verbunden, oft in Form polarer Gegensätze wie individual – society; innocence – corruption; garden – machine; nature – civilization; head – heart usw.

Es herrscht meiner Meinung nach eine auffällige unmittelbare Verbindung von kontextualistischer Methodologie und (in meinen Worten) irrationaler Geschichtsphilosophie, der schließlich auch derjenige Kritiker erliegen muß, dem es wie z. B. Henry N. Smith in seiner Mark-Twain-Kritik um "vernacular values" in der amerikanischen Tradition geht. Daß diese Verbindung von kontextualistischer Methode und einem bestimmten gesellschaftlichen Selbstverständnis nicht gewaltsam hergestellt ist, gibt M. Krieger selbst zu erkennen:

Thus, as I show in that chapter, this aesthetic, for all its seeming purity, can, through thematic analysis, be pushed back - perhaps where it belongs - into a metaphysic. And the new study of "thematics," as it is defined in my final chapter, reveals it to be a branch – and a telling branch – of pure aesthetics. This projection of my aesthetic onto thematics finds in the tragic vision its natural subject, for it is the tragic vision that this metaphysic must be designed to accommodate.[42]

Krieger sieht im Gegensatz zu anderen Kritikern die logischen Implikationen dieser Ausweitung des Gestaltbegriffs:

But how does the demonstration that the work is aesthetically successful ensure the accuracy of its historical and anthropological vision? How can the aesthetic judgment be shown to have such rare cognitive consequences? Through what coincidence is aesthetic complexity somehow the accurate "reflection" of existential complexity so that aesthetic soundness automatically as it were, involves historic authenticity?

On this occasion I can offer only the merest suggestion of how I would proceed to demonstrate the aesthetic and the anthropological as two sides of the same vision and, consequently, of the same judgment.[43]

Daß die – dem Kunstwerk erst literarischen Wert verleihende – Gestalt anderweitig unzugängliche Erkenntnisse über Geschichte und Kultur vermittelt, läßt sich nur von einem bestimmten Gesellschaftsbegriff her begründen; wenn nämlich beide als zwei Seiten ein und derselben "tragischen Vision" begriffen werden, genauer: wenn man die menschliche Existenz durch eben jene ursprünglich literarischen Ordnungsprinzipien wie "tension", "complexity", "paradox" geprägt sieht. Nur so können die "internal complications of a poem" genau die "existential complications of the existential universe", an anderer Stelle: "the absurdity of unreconcilable oppositions everywhere and ultimately" abbilden.[44]

6.2 An dieser Stelle drängt sich naturgemäß die Frage auf, ob die amerikanischen Meisterwerke nicht tatsächlich diese Art von "tieferer" existentieller Wahrheit enthalten? Haben die literarischen American Studies nicht einfach nur ihre Augen für //126// die Art von Erfahrung geöffnet, durch die die amerikanische Kultur nun einmal geprägt ist?

Hier gilt es zu differenzieren. Erstens haben die amerikanischen Kritiker nicht einfach nur die an sich schon vorhandenen amerikanischen Meisterwerke interpretiert, sondern bestimmte im Hinblick auf ihre Wertinteressen besonders interpretationsträchtige Texte erst zu einem Kanon "klassischer" amerikanischer Meisterwerke erklärt. Die Melville-Renaissance kann als erstes Zeichen einer Neuorientierung innerhalb der amerikanischen "high-brow"-Kultur angesehen werden. Leitgedanken des Liberalismus und literarischen Realismus wie Rationalität und Fortschrittsglaube wurden durch jene "tragic vision" abgelöst, die Melville für eine neue Kritikergeneration am überzeugendsten verkörperte. Es ist zu fragen, ob ein Autor wie Melville nicht mehr über die Blütezeit seiner Rezeption als über das spezifisch Amerikanische der amerikanischen Imagination aussagt. Eine Ahnung davon ist bei Leo Marx selbst zu finden, wenn er in einer Rezension von Poiriers A World Elsewhere schreibt: "One cannot help feeling that this fashionable doctrine was tailored to fit our contemporary despair."[45] Mir scheint in der Tat, daß besonders Autoren wie Hawthorne, Melville und H. James nicht die Schlüsselautoren zum Verständnis der amerikanischen Kultur sind, sondern höchstens die Schlüsselautoren zum Selbstverständnis der amerikanischen literarischen Intelligenz in den fünfziger und sechziger Jahren.

Zum zweiten ist zu bedenken, ob nicht das Bedürfnis der zeitgenössischen amerikanischen Kritik, eine "klassische" Tradition des amerikanischen Denkens für das eigene Lebensgefühl zu finden, dazu geführt hat, "klassische" Vertreter der amerikanischen Literatur auf dieses "tragische" Selbstverständnis hin umzudeuten. Am eklatantesten scheint mir das im Falle Mark Twains geschehen zu sein, und zumindest hier scheint M. Greens Verdikt berechtigt:

When this involves, as it has in American literary studies, reinterpreting and misinterpreting the writers of the past to make them fit the theories of alienation – the power of blackness in the American imagination – then this intellectual vice is seen at its most lurid.

The major texts of American literature are nowadays not so much overinterpreted as re-invented.[46]

6.3 Kritiker wie Maxwell Geismar oder Louis Kampf haben die hier herausgearbeitete "tragic vision" mit der geistigen Atmosphäre der fünfziger Jahre in Verbindung gebracht, die durch Prosperität und Optimismus über das "Ende aller Ideologien", aber auch durch den Kalten Krieg und hysterische Züge aufweisenden Konformismus gekennzeichnet waren.

The complement - perhaps the other side - of the social sciences' cheery, though somewhat frightening, optimism is to be found in the modish pessimism of our cultural critics with metaphysical pretensions. They share the social scientists' elemental view of society, but substitute for the latter's iron economic laws and statistical probabilities the notions of fate, original sin, and that catchall, the human condition. In the realm of literary culture, we have all been taught that life is necessarily tragic, and that the only //127// matter worthy of our anguish is the imminence of Death. Learning to accept unhappiness, alienation, and the inevitable failure to fulfill one's possibilities is a sign of one's critical maturity that is, of one's Arnoldian culture.[47]

Es wird jedoch nicht klar, warum der gleiche gesellschaftliche Hintergrund in einem Fall zu – wenn auch falschem – Optimismus, im anderen zu offensichtlichem Pessimismus geführt hat.

Eine Erklärung scheint mir in der besonderen Lage der ästhetischen und besonders der literarischen Intelligenz zu liegen. Diese steht – oder fühlt sich – seit dem Aufkommen des Positivismus unter einem beständigen Legitimationszwang, von dem auch die Methodendiskussion der American Studies geprägt ist. Primär von Literaturwissenschaftlern geführt, ist sie gar nicht primär um kulturwissenschaftliche Interdisziplinarität bemüht. Sieht man genauer hin, so handelt es sich zumeist um eine ablehnende Auseinandersetzung mit dem "social approach", einer auf die Methode der "content analysis" verkürzten positivistischen Sozialwissenschaft, auf deren Hintergrund die Notwendigkeit des Festhaltens am spezifisch Literarischen besonders eindringlich aufscheint.

Gegen den Positivismus sind von der literarischen Intelligenz verschiedene Strategien entwickelt worden. Die eine ist die Übernahme von Kriterien positivistischer Wissenschaftlichkeit. So führte etwa der Einfluß der Analytischen Philosophie zu einer analogen Analytischen Ästhetik, wobei sich die noch strengere, erste Phase dieser neuen Sprachphilosophie in entsprechenden Versuchen der vierziger und fünfziger Jahre spiegelte, Beschreibung und Wertung in ästhetischen Analysen sorgsam zu trennen. Heute wiederum sind es die verschiedenen Spielarten linguistisch und strukturalistisch beeinflußter "Textwissenschaft", mit denen versucht wird, Fragen nach Sinn und Funktion der Literatur und Literaturwissenschaft zu begegnen.[48]

Eine zweite anti-positivistische Strategie wurde früh vom Kontextualismus wiederbelebt. Sie besteht im wesentlichen in dem hier beschriebenen Versuch, der Literatur eine anderweitig unzugängliche und damit ganz und gar einzigartige Erkenntnisfunktion zu erhalten. Will man die Einzigartigkeit ihrer Aussagen begründen, so muß man sie in dem verankern, was Literatur vermeintlich einzigartig macht, dem organischen Gestaltungsprinzip, "for only this approach can preserve poetry as our primary form of discourse and as the cultivated, self-conscious equivalent of our primary way of knowing ...".[49] Der Wille, Literatur als einzigartige zu bewahren, führt also geradewegs zu einem Rückzugsgefecht, das Literatur und Literaturwissenschaft ein für alle Male an ein diskursiv nicht vermittelbares organisches Prinzip bindet und damit auf die Vermittlung von metaphysischen Grundmustern festlegt.

Der in Frage gestellten gesellschaftlichen Funktionsbestimmung korrespondiert also wissenschaftstheoretisch das Festhalten am Kontextualismus und philosophisch jener als "power of blackness" oder "tragic vision" gefaßte Existentialismus. Daraus entspringt auch das berühmte methodologische Dilemma der literarischen American Studies. Denn um eine neue gesellschaftliche Funktionsbestimmung als umfassende Kulturwissenschaft zu erreichen, müßte man gerade jene kontextualistischen Prämissen aufgeben, die man //128// aus Legitimationsgründen für unverzichtbar hält. Was immer wieder als ehrgeizige Methodensynthese ansetzt, bleibt daher – bewußt oder unbewußt, gewollt oder ungewollt – dem Kontextualismus und seinen existentialistischen Philosophemen verhaftet. Die kulturelle Tradition wird umgedeutet oder reduziert auf das gesellschaftliche Selbstverständnis einer literarischen Intelligenz, die sich selbst angesichts ihrer drohenden gesellschaftlichen Funktionslosigkeit durch die "tragic vision" des tieferen existentiellen Sinns ihres Dilemmas versichern kann. //129//

 



*     Leicht überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, der am 25. 5. 1972 in Hamburg bei der Vortagung der Literaturwissenschaftler im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien gehalten wurde.

[1]     Gunnar Myrdal, Objektivität in der Sozialforschung (Frankfurt, 1971), S. 76.

[2]     Robert E. Spiller, "Value and Method in American Studies: The Literary Versus the Social Approach", Jahrbuch für Amerikastudien, 4 (1959), 19.

[3]     Erwin Leibfried, Kritische Wissenschaft vom Text (Stuttgart, 1970), S. 5.

[4]     Marie Luise Gansberg, "Zu einigen populären Vorurteilen gegen materialistische Literaturwissenschaft", in: M. L. Gansberg/P. G. Völker, Methodenkritik der Germanistik (Stuttgart, 1970), S.32.

[5]     Diese Gefahr zeigt sich zuweilen bei rein theoretisch verbleibenden Ansätzen, wie etwa aktuellerweise in der kritischen Auseinandersetzung Olaf Hansens mit den American Studies: "Hermeneutik und Literatursoziologie. Zwei Modelle: Marxistische Literaturtheorie in Amerika / Zum Problem der 'American Studies'", in: H. A. Glaser u. a., Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften (Stuttgart, 1971), S. 357-399. – Die zu kritisierenden American Studies werden durch etwas mechanische Übernahme von inzwischen im Positivismusstreit bewährten Kritikmustern unversehens ins positivistische Lager abgedrängt. Als ihr hauptsächlicher Mangel erscheint nun, daß man "an ein empiristisch definiertes Kulturkonzept gebunden bleibt" (S. 395). Tatsächlich hat der funktionale Kulturbegriff der Anthropologie nur in theoretischen Diskussionen der American Studies eine Rolle als willkommene Lösung des leidigen Definitionsproblems gespielt. In der Praxis dagegen ist der Kulturbegriff immer organizistisch bzw. kontextualistisch geblieben. Praktisch sind die American Studies nie zum Funktionalismus vorgestoßen, das wäre ja vielmehr erst der Fall, wenn sie heutige Ratschläge zu einem "wertfreien" Strukturbegriff beherzigen würden. In dem vermeintlichen Versuch, Beschreibung als wertfreie Analyse der Interpretation vorausschicken zu wollen (S. 396), sind sie jedenfalls nicht wiederzuerkennen. Nicht "empiristische Methodologie" setzt daher dem aufklärerischen Anspruch der American Studies "unüberschreitbare Grenzen" (S. 395). Sie dient höchstens, wo sie in theoretischen Entwürfen bemüht wird, dazu, das eigentliche Hindernis zu verdecken: das Festhalten an einem uneingestandenen Organizismus bzw. Kontextualismus, den man noch gar nicht durchschaut hat.

[6]     Das Rahmenthema der Vortagung lautete: "Die Literaturwissenschaft und ihre Relevanz für die 'American Studies'; die 'American Studies' und ihre Relevanz für die Literaturwissenschaft."

[7]     Henry N. Smith, "Can 'American Studies' Develop a Method?", American Quarterly, 9 (1957), 201.

[8]     Franz H. Link, Die Erzählkunst Nathaniel Hawthornes (Heidelberg, 1962), S. 13.

[9]     Murray Krieger, The Play and Place of Criticism (Baltimore, 1967), S. 156.

[10]    Murray Krieger, The New Apologists for Poetry (Bloomington, 1969), S. 131.

[11]    Northrop Frye, "Literary Criticism", in: James Thorpe, Hrsg., The Aims and Methods of Scholarship in Modern Languages and Literatures (New York, 1963), S. 63.

[12]    Henry N. Smith, "Introduction", zu Adventures o f Huckleberry Finn (Boston, 1958), S. v.

[13]    Ein von mir gern strapaziertes Beispiel, das den Systemzwang schlagartig erhellt: obwohl Smith vor einiger Zeit einen Aufsatz geschrieben hat, in dem er die strukturelle Zerrissenheit und Uneinheitlichkeit des Romans überzeugend darlegt, zögert er doch mit der Veröffentlichung. Denn Smith muß von seinen Prämissen her der Meinung sein, daß Huck damit "literarisch" erledigt sei.

[14]    Albert Borgmann, "Sprache als System und Ereignis", Zs. f. Philosophische Forschung, 21 1967), 586.

[15]    Isabel Hungerland, Poetic Discourse (Berkeley, 1958), S. 75.

[16]    Meyer Schapiro, "On Perfection, Coherence, and Unity of Form and Content," in Art and Philosophy, hrsg. v. Sidney Hook (New York, 1966), S. 3.

[17]    Leo Marx, The Machine in the Garden (New York, 1967), S. 11; 16; 229.

[18]    Leo Marx, "American Studies – A Defense of an Unscientific Method", New Literary History, 1 (1969), 75-90.

[19]    Donald Pizer, Realism and Naturalism in Nineteenth-Century. American Literature (Carbondale, 1966), S. 124.

[20]    Marx, Machine in the Garden, S. 337.

[21]    Ebd., S. 269.

[22]    Ebd., S. 272.

[23]    Ebd., S.292.

[24]    Marx, "American Studies ...", a. a. O., 88f.

[25]    Ebd., 79.

[26]    Ebd., 81.

[27]    Marx, Machine in the Garden, S. 265.

[28]    Richard Poirier, A World Elsewhere (New York, 1966), S. 180.

[29]    H. N. Smith, "Introduction", zu Huck Finn, S. xii.

[30]    Bernard Bowron, Leo Marx, and Arnold Rose, "Literature and Covert Culture," in Studies in American Culture, hrsg. v. Joseph Kwiat and Mary Turpie (Minneapolis, 1960), S. 88; 94.

[31]    Richard Chase, The American Novel and Its Tradition (New York, 1957), S. 11.

[32]    Poirier, A World Elsewehere, S. x.

[33]    Marx, Maschine in the Garden, S. 342.

[34]    Murray Krieger, "Critical Historicism: The Poetic Context and the Existential Context", Orbis Litterarum, 21 (1966), 51.

[35]    Roy Harvey Pearce, Historicism Once More (Princeton, N.J., 1969), S. 27.

[36]    Ebd., S. 35.

[37]    Ebd., S. 28; 36.

[38]    Krieger, "Critcal Historicism ...", a. a. O., 50.

[39]    Ebd., 51.

[40]    Ebd., in der Reihenfolge: 51; 52; 56; 56.

[41]    Ebd., 50.

[42]    Murray Krieger, The Tragic Vision (New York, 1960), S. ix.

[43]    Krieger, "Critical Historicism ...", A. a. O., 56f.

[44]    Krieger, Tragic Vision, S. 236; 247.

[45]    Leo Marx, "Review: A World Elsewhere", Book Week (6.11.1966), S. 19.

[46]    Martin Green, Re-Appraisals: Some Commonsense Readings in American Literature (New York, 1965), S. 6; 10f.

[47]    Louis Kampf, "Culture Without Criticism", Massachusetts Review, 11 (1970), 636.

[48]    Dieter Richter, "Ansichten einer marktgerechten Germanistik", Das Argument, 72 (1972), 314-325.

[49]    Krieger, "Critical Historicism ...", a. a. O., 54f.